„Manche Patienten vergisst man nie. Noch Jahre danach erinnere ich mich an ihre Persönlichkeit, ihr Gesicht, ihre Stimme. Warum ich sie aber im Gedächtnis behalte, dafür gibt es ganz unterschiedliche Gründe. Einer davon sind außer gewöhnliche Situationen in rein medizinisch-fachlicher Hinsicht. So wie bei der Patientin, die eigentlich zur Behandlung ihrer Schmerzen auf die Palliativstation gekommen war, dann aber plötzlich
eine sogenannte Autoimmunhämolyse bekommen hat.
Im Lauf einer Stunde griff ihr durch bestimmte Medikamente getriggertes Immunsystem sämtliche roten Blutkörperchen an. Wir mussten alle uns verfügbaren intensivmedizinischen Tricks aufbieten, um die Frau durch diese Krise zu bringen: einen zentralen Venenkatheter in die Beinvene legen, dabei gleichzeitig
versuchen, per Infusion den Kreislauf zu unterstützen und die Patientin mit Cortison zu versorgen etc. Und das auf einer Palliativstation! Welch ein hochgradig absurder Moment und doch auch einer, der nichts als richtig war. In solchen Fällen zahlt es sich aus, schon im Vorfeld mit den Patienten abgeklärt zu haben, welcher Behandlungsumfang noch sinnvoll ist und was sie sich an Behandlung überhaupt noch wünschen.
Noch stärker in Erinnerung bleiben aber Situationen menschlicher Schönheit sowie der Schönheit sozialer Verbindungen. Ich denke da etwa an jene Patientin, die wegen ihrer Krebserkrankung insgesamt dreimal bei uns war. Eine vielleicht fünfzigjährige Frau, ganz geradeaus, immer auf die Leute zugehend, sehr klar in ihren Ansichten und in dem, was sie wollte. Und gesegnet mit einer Herzensgüte, die sich in jedem Blick und jedem Wort von ihr mitteilte. Bei der Aufnahmeuntersuchung sah ich, dass sie am ganzen Körper tätowiert war. Auf dem Rücken trug sie ein großes Ornament.

Ich hörte sie mit dem Stethoskop ab und sah jene typische Narbe, die bei vielen Brustkrebs-Patientinnen davon rührt, dass beim Brustaufbau ein Teil des Rückenmuskels nach vorne gezogen wird. Ich zögerte einen Moment, dann fragte ich: „Dieses Tattoo hier, das ist ganz neu, oder?“
„Wieso?“, fragte sie zurück.
„Weil es absolut konturgerade über die Narbe geht. Entweder hat da jemand mit einem unglaublichen Auge für Tattoo-Konturen diese OP-Narbe gesetzt, und das fällt mir eher schwer
zu glauben; oder das Tattoo ist erst danach gestochen worden, also irgendwann in den letzten anderthalb Jahren. Und damit zu einer Zeit, als Sie schon erkrankt waren.“
Sie nickte: „Ja, ist es auch.“
Ich fragte nur noch: „Gehe ich recht in der Annahme, dass das ein Versuch war, die Herrschaft über den eigenen Körper wieder zurückzubekommen nach der Erkrankung?“
Da fing sie an zu weinen.
Als sie zum dritten Mal zu uns kam, gab es nur noch wenig Hoffnung. Die Metastasen in der Leber hatten sich vermehrt. Wir wussten, dass sie sterben würde, und sie wusste es auch.
In ihren letzten Tagen nahm die Benommenheit zu. Gleichzeitig schien es ihr aber schwerzufallen, zur Ruhe zu kommen. Sie wirkte nervös, so, als würde sie etwas suchen, als müsste noch etwas erledigt werden.
Eine meiner Kolleginnen setzte sich zu ihr ans Bett. Die beiden duzten sich längst: „Du hast doch immer gesagt: Der einzige Ort, an dem dir nichts passieren kann, ist hier bei uns. Jetzt bist du doch bei uns. Hier bist du sicher.“
Sie hatte die richtigen Worte gefunden. Die Patientin entspannte sich zusehends. In der folgenden Nacht verstarb sie.
Mit manchen Patienten auf der Station ergibt sich eine Verbindung, die durch die Intensität des Austauschs einige Qualitäten von Freundschaften besitzt. Im privaten Rahmen hätte man vielleicht Wochen oder gar Monate gebraucht, um gegenseitiges Vertrauen aufzubauen und den anderen wirklich wahrzunehmen.
Auf einer Palliativstation geschieht das im Zeitraffer, was den Austausch nur noch vertieft. Selbstverständlich passiert das nicht jeden Tag, braucht es auch nicht, soll es auch nicht. Aber wenn es passiert, erzeugt es eine Verbindung, die tief berührt. Freilich häufig um den Preis, die gerade erst gewonnene Nähe nach kurzer Zeit wieder zu verlieren.
Je nach Tagesform setzt einem die Intensität mal mehr, mal weniger zu. Für gewöhnlich schaffe ich es recht gut, zwischen den Emotionen der Patienten und meinen eigenen zu unterscheiden. Aber es gibt auch Phasen, in denen ich merke, dass das Geschehen auf der Station mich heftiger erwischt, als mir lieb ist. Dann versuche ich, die Intensität ein wenig zu steuern, um es nicht zu emotional werden zu lassen.
Dann stelle ich für dieses Mal lieber die eher leichte Frage: „Wie ist es denn heute Nacht mit den Schmerzen gewesen?“ Und verschiebe die ungleich schwierigere auf den nächsten Tag: „Haben Sie denn inzwischen mit Ihren Kindern über alles gesprochen?“ Selbst wenn ich der Meinung bin, mit meiner eigenen Angst vor der Vergänglichkeit heute besser umgehen zu können als früher, bedeutet das nicht, dass die Angst nicht mehr existiert oder im Berufsalltag nie vorkommt. Erweckt werden kann sie beispielsweise von Patienten, mit denen ich mich sehr leicht identifizieren kann, weil sie ungefähr so alt sind wie ich, einen ähnlichen sozialen Background haben oder eine ähnliche Persönlichkeit.“
Auszug aus Matthias Gockel: „Sterben – Warum wir einen neuen Umgang mit dem Tod brauchen. Ein Palliativmediziner erzählt“, Berlin Verlag, 267 Seiten, 22 Euro