Donnerstag, 9. November 1989, 19 Uhr. Eigentlich ein ruhiger Abend. An der Universität Konstanz findet das Symposium mit dem vielsagenden Titel „Europa ohne Grenzen“ statt. Der damalige Chefredakteur Gerd Appenzeller und einige Kollegen aus der Politikredaktion des SÜDKURIER sind dort, um den Vortrag von Ministerpräsident Lothar Späth zu hören. Politik-Ressortchef Robert Rapp, mein Kollege Dieter Löffler und ich halten Stallwache. Da schrillt die Glocke. Im Fernschreibraum ist eine Eilmeldung der Deutschen Presseagentur eingegangen. „DDR-Grenze zur Bundesrepublik von sofort an für Ausreisende offen“ heißt es da. Das klingt nach Sensation. „Ich glaube, das ist die wichtigste Eilmeldung, die ich je in meinem Leben in der Hand hatte“, sage ich fassungslos.
Dateiname | : | So berichetet der SÜDKURIER über den Fall der Mauer |
Datum | : | 07.11.2014 |
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Und schon zeigt das Fernsehen Bilder, wie SED-Funktionär Günter Schabowski in Ost-Berlin am Ende einer Pressekonferenz wie beiläufig den geschichtsträchtigen Beschluss verliest. „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur Bundesrepublik erfolgen.“ So der Wortlaut der Erklärung. Auf Nachfragen von Journalisten, wann diese Regelung denn in Kraft trete, fügt Schabowski stammelnd hinzu: „Nach meiner Kenntnis, ab sofort, unverzüglich.“
Unverzüglich macht sich jetzt Dieter Löffler auf in Richtung Universität, um den Chefredakteur zu informieren, schließlich gab es noch keine Mobiltelefone. Robert Rapp und ich analysieren derweil die Einzelheiten der Verlautbarung. Skepsis macht sich breit. Mit keinem Wort steht da, dass die Grenzen geöffnet werden. Es heißt nur, dass jeder ohne Anlass die Ausreise beantragen könne. Offenbar wollte die DDR die massenhaften Ausreisen über Ungarn und Tschechien stoppen. Entgegen Schabowskis Ankündigung sollte die Regelung am nächsten Morgen in Kraft treten und jede Ausreise hätte von der Volkspolizei genehmigt werden müssen. So war es geplant.
Doch so genau nehmen es inzwischen Tausende von DDR-Bürgern, die Schabowski ebenfalls im Fernsehen gehört hatten, nicht. „Nach meiner Kenntnis, ab sofort, unverzüglich.“ Das sind die Worte dieses Abends. Das Fernsehen wiederholt sie nahezu in einer Endlosschleife. Und das ist das, was Tausende von DDR-Bürgern im Ohr haben. „Ab sofort, unverzüglich“. Sie nehmen Schabowski beim Wort und machen sich auf den Weg. Sofort und unverzüglich.
In der Redaktion ist jetzt auch Chefredakteur Gerd Appenzeller eingetroffen. Gemeinsam versuchen wir, mit ihm für Seite eins eine Aufmachung zu gestalten, die einerseits der Bedeutung der Nachricht gerecht wird, andererseits aber auch keine verfrühten Hoffnungen oder Interpretationen zulässt. Das hat auch Robert Rapp im Sinn, der in seinem Kommentar schreibt: „Das sind in der Tat Fortschritte, die den Pferdefuß jedoch nicht verdecken können“. Denn Ausreisen über Drittländer soll es nicht mehr geben. Schließlich kommt Rapp zu dem Schluss „…also ist das, was sich als Sensation anzukündigen schien, zunächst einmal die Rücknahme bisheriger Erleichterungen.“ Sein Kommentar wird die Überschrift tragen „Noch steht die Mauer.“
Und genau das wollen viele DDR-Bürger noch in dieser Nacht infrage stellen. Sie verlassen ihre Häuser und strömen zu den wenigen Grenzübergängen, die die beiden Teile Berlins miteinander verbinden. Von Viertelstunde zu Viertelstunde werden es mehr, die Schabowskis Ankündigung auf ihren Wahrheitsgehalt testen wollen. Tatsächlich ist es möglich, nur nach Vorzeigen des Personalausweises in den Westen zu gelangen.
Noch öffnen sich die Schlagbäume nur sporadisch, doch der Druck der Massen wird immer größer. Bald will kein Grenzpolizist mehr einen Ausweis sehen, die Schranken bleiben oben. Aus den Berliner Grenzkontrollstellen Bornholmer Straße, Invalidenstraße und Sonnenallee werden plötzlich sperrangelweit offenstehende Scheunentore, die Grenze wird förmlich überrannt.
Inzwischen wird der SÜDKURIER in der Druckerei am Konstanzer Fischmarkt in die Lastwagen geladen und in alle Teile des Verbreitungsgebiets ausgeliefert. Die druckfrischen Zeitungen tragen die Doppelschlagzeile: „DDR öffnet innerdeutsche Grenze – Spontane Freudenfeiern in Berlin“. Rechts neben der Schlagzeile behauptet sich tapfer Robert Rapps Kommentar „Noch steht die Mauer“. Dem Wort „noch“ sollte aber in den nächsten Stunden besondere Bedeutung zukommen.
Freitag, 10. November 1989, 9.30 Uhr. Auch nach der historischen Nacht der Nächte geht das Symposium „Europa ohne Grenzen“ an der Universität Konstanz weiter. Ich bin eingeteilt, den Vormittag als Berichterstatter zu übernehmen. Doch irgendetwas sträubt sich in mir, an einem solchen Tag zum Tagesgeschäft überzugehen. Instinktiv führt mich mein Weg statt zur Universität zunächst in die Redaktion. Das ist nicht ganz verkehrt. Frau Rauscher, die Sekretärin, empfängt mich mit den Worten: „Gut, dass Sie kommen, ich habe für den Nachmittag, einen Flug für Sie nach Berlin gebucht.“ Ab Stuttgart natürlich, Zürich wäre zu teuer gewesen, denn Flüge von der Bundesrepublik nach Berlin wurden von der Bundesregierung damals kräftig subventioniert, um das eingemauerte West-Berlin besser anzubinden.
Ich lasse Symposium Symposium sein und mache mich auf. Zu Hause noch ein paar Sachen eingepackt und dann ab nach Stuttgart. Die Lage am Flughafen ist ruhig. Ganz anders die Situation in Berlin-Tegel. Dort, wo sich sonst die Taxis in langen Warteschlangen aufstauen, herrscht gähnende Leere. Ungläubiges Staunen nicht nur bei mir, sondern bei allen eben in Berlin gelandeten Passagieren. Unter Ihnen auch ein Kollege aus Zürich, der ebenfalls eingeflogen ist, um über die aktuellen Ereignisse zu berichten. Endlich ein Taxi in Sicht. Der Fahrer winkt nur ab. Nein, er fahre nicht in die Innenstadt. Täte er es, erginge es ihm wie all seinen Kollegen, die sich in die City aufgemacht hatten, aber nie wieder zurückkamen. „Da herrschen chaotische Zustände, da jeht nüscht mehr“, klärt der freundliche Fahrer die Wartenden auf. „Ick kann sie aba bis zum U-Bahnhof Jakob-Kaiser-Platz fahren, da ham Se Anschluss in die Stadt“, so sein Angebot. Inzwischen treffen noch andere Taxen ein, sie werden alle zum Jakob-Kaiser-Platz fahren und schnell wieder zum Flughafen zurückkehren. Mein Schweizer Kollege schließt sich mir an, er war noch nie in Berlin.
Die U-Bahn-Fahrt geht zum Adenauer-Platz, also mitten hinein zum Kurfürstendamm. Das Aussteigen ist problemlos, der Bahnhof nicht überfüllt, die U 7 ist keine Ost-West-Verbindung. Doch tritt man aus dem Untergrund hinauf auf den Ku’Damm trifft einen der Wiedervereinigungs-Trubel mit voller Wucht. Der Duft einer eilends in Betrieb genommenen Suppenküche liegt über den frierenden, aber noch ohne Geld dastehenden Besuchern. Autohupen, Trabi-Geknatter, kollektive Waaaaahnsinns-Schreie, Gesänge und Gedränge, Rufe nach Personen, die man soeben aus den Augen verloren hat. Auch mein Schweizer Kollege ist in der Menge untergegangen. Hin und wieder ein Martinshorn, das versucht, einer Polizeistreife den Weg zu bahnen. „Sag’ mir, wo die Mauer ist, wo ist sie geblieben, wann wird man je verstehn, wann wird man je verstehen“ singt ein Grüppchen Westberliner Straßenmusikanten auf dem Mittelstreifen des Boulevards. Innerhalb weniger Minuten bildet sich daraus ein tausendköpfiger Chor, nicht wenige haben Tränen in den Augen.
Im Gedränge erweist sich die mitgeführte Reisetasche als unhandlich. Also kurz zum Hotel, einchecken, Gepäck loswerden. Und natürlich Fernsehgerät anstellen, man weiß ja nie in diesen Zeiten. Auf dem Bildschirm dann die gleichen Bilder, die man eben live erlebt hatte. Jubelnde Menschen, wohin man blickt. Plötzlich meldet sich ein Reporter aufgeregt zu Wort, er habe gehört, an der Bernauer Straße werde die Mauer abgebaut. Nichts wie hin.
Inzwischen ist es 23 Uhr. Wo es im Wedding sonst um diese Zeit still und dunkel ist, dröhnen Kompressoren, knattern Presslufthämmer im gleißenden Licht der Scheinwerfer, die die Feuerwehr auf einer Drehleiter montiert hat. Hektische Betriebsamkeit auf beiden Seiten der Mauer. Tatsächlich soll hier ein Mauerdurchbruch zur Eberswalder Straße entstehen. Auf westlicher Seite werden Betonpoller entfernt, was hinter der Mauer geschieht, lässt sich nur ahnen. Auch dort Lärm von schweren Baumaschinen. An die 3000 Schaulustige haben sich inzwischen trotz der späten Stunde hier eingefunden. Sie wollen Augenzeuge sein, wenn sich hier die Mauer öffnet. Nach genau 28 Jahren und 89 Tagen.
Wagemutige klettern auf die Mauerkrone, um sich einen Überblick zu verschaffen. „Wie weit seid ihr denn da drüben?“ ruft einer den Bausoldaten der Volksarmee zu. Keine Antwort. Die gibt ein Beamter der Westberliner Polizei: „Für 2 Uhr ist der Durchbruch geplant“. Es ist frostig kalt in dieser Nacht.
„Das schaffen die nie bis zwei“, ruft es von der Mauer herab. Die da oben sehen, dass auf der anderen Seite Betonplatten als provisorische Straße verlegt werden. Und es fehlen noch so viele Platten bis zum Westen. Jetzt nennt die Polizei 4 Uhr als Durchbruchszeit. Es ist 2.20 Uhr, Kälte und Müdigkeit stellen den Willen, bei einem historischen Ereignis dabei zu sein, auf eine schwere Probe. In der Nähe macht ein beleuchtetes Wirtshausschild Hoffnung. Schaulustige und Journalisten aus aller Welt haben das gleiche Ziel, der Wirt macht das Geschäft seines Lebens.
Aufgewärmt und gestärkt geht es zurück zur Mauer. Dort ist es jetzt dunkler, die Feuerwehr hat ihren Lichtbaum wieder eingeholt. Nur die Scheinwerfer der Fernsehteams erhellen die Szene, von den zunächst 3000 Zuschauern ist noch etwa ein Drittel dabei. Das Stehen fällt schwer, fast alle lehnen sich an die Mauer oder an einen Metallzaun. Daran hängen sieben weiße Kreuze. Dorit Schmiel, Ottfried Reck, Ida Sieckmann, Bernd Lünser, Rudolf Urban, Ernst Mundt und Olga Selger mussten hier ihr Leben lassen, weil sie eine Grenze überwinden wollten, die nun an dieser Stelle abgerissen wird. Heute erinnern Steinplatten an die ersten Mauertoten.
Ein junger Mann klettert wieder auf die Mauer „Die legen immer noch Platten.“ Es ist 5.08 Uhr. An dieser Stelle endet der authentische Bericht. Müdigkeit und Kälte waren stärker. Irgendwann zwischen 6 und 7 Uhr muss es wohl soweit gewesen sein. Auf jeden Fall passieren die ersten DDR-Bürger um 8.08 Uhr den neuen Übergang von der Eberswalder Straße zur Bernauer Straße. Das wird am Morgen das Fernsehen berichten. Die deutsche Einheit nimmt ihren Anfang.