Der gigantische Erdrutsch in der Marienschlucht, durch den am 6. Mai eine 72-jährige Frau zu Tode kam und ein 74-jähriger Mann verletzt wurde, ist nach wie vor unfassbar. Immerhin eine Erklärung, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte, liefern nun die Fachleute des geologischen Landesamts Freiburg in ihrem Gutachten. Dort lautet das Fazit der Geologen Clemens Ruch und Andreas Koch: „Zusammenfassend ist von einer spontanen, durch lang anhaltenden Niederschlag ausgelösten, sich nicht vorab ankündigenden Massenbewegung auszugehen.“

Der Allensbacher Bürgermeister Helmut Kennerknecht folgert aus dem Gutachten, das von der zuständigen Kriminalpolizei Friedrichshafen in Auftrag gegeben worden ist, dass es sich vermutlich um einen Fall von höherer Gewalt gehandelt habe. Doch bewerten müssen dies die Kripo und die Staatsanwaltschaft Konstanz, die wegen des Todesfalls ermitteln, wie Andreas Mathy, der Pressesprecher der Staatsanwaltschaft auf Nachfrage bestätigte. „Das Gutachten soll klären, ob und inwieweit mögliche Sorgfaltspflichten verletzt worden sind.“ Je nachdem, was dabei herauskomme, würde sich die Frage stellen, wer dafür verantwortlich zu machen wäre, so Mathy. Es sei noch nicht absehbar, bis wann das Ermittlungsverfahren abgeschlossen werde.

Astlochgroße Öffnung als Ursache

Die eigentliche Ursache für das Unglück war laut Gutachten eine nur etwa astlochgroße, röhrenartige Öffnung im Sandsteinfels, die unter der zirka 60 Zentimeter dicken, bewachsenen Boden- und Humusschicht verborgen und deshalb nicht erkennbar gewesen sei, berichtet Kennerknecht. Aus diesem kleinen Loch sei vermutlich über einen längeren Zeitraum beständig unterirdisch Wasser zwischen Fels und Erdreich heruntergesickert. Der Boden sei dadurch nach und nach aufgeweicht und dessen Haftungsfestigkeit am Fels aufgehoben worden, so Kennerknecht weiter: „Das wurde zu einer Rutschbahn.“ Weiterer Auslöser für den Erdrutsch seien offenbar die starken Regenfälle in den Tagen davor gewesen, weil dadurch der Boden zusätzlich weich und schwer geworden sei. Was das Regierungspräsidium (RP) Freiburg auf Nachfrage bestätigte: „Bereits jetzt kann gesagt werden, dass die seit dem 28. April bis zum Tag der Rutschung erheblichen Niederschläge von etwa 135 Liter pro Quadratmeter die entscheidende Rolle gespielt haben“, so RP-Pressesprecher Markus Adler.

Am frühen Abend des 6. Mai löste sich so laut Gutachten am südlichen Hang der Schlucht auf einer Länge von rund 50 und einer Breite von zirka 15 Metern das Erdreich – und dies offenbar recht schnell. Dabei stürzten zwischen 50 und 90 Kubikmeter, 100 bis 150 Tonnen an Boden, Schlamm, Geröll und Bäumen hinab. Und obwohl dieser Hang gut 30 Meter Luftlinie vom eigentlichen Weg durch die Schlucht entfernt ist, wurde die Treppen- und Steganlage auf einer Länge von etwa 35 Metern zertrümmert und mit in die Tiefe gerissen.

Die getötete Frau aus dem Norden von Baden-Württemberg wurde noch am selben Abend geborgen. Der verletzte Mann aus Hannover wurde ins Krankenhaus Singen gebracht, das er nach SÜDKURIER-Informationen inzwischen verlassen hat. Bekannte haben ihn demnach nach Hause gebracht.

Bleibt die Frage, ob jemand zur Verantwortung gezogen werden kann. Kennerknecht meint, dies sei juristisch differenziert zu sehen. Grundsätzlich sei der Eigentümer zuständig – also das gräfliche Haus Bodman. Dieses habe aber nach den Erdrutschen vor gut zehn Jahren, weil es das Risiko nicht mehr tragen wollte, eine Vereinbarung geschlossen mit den Gemeinden Allensbach und Bodman-Ludwigshafen, wonach diese die Verkehrssicherungspflicht auf ihrer Gemarkung übernehmen.

Für den betroffenen Bereich ist demnach Allensbach zuständig. „Grundsätzlich geschieht das Betreten der freien Natur rechtlich auf eigene Gefahr“, so Kennerknecht. Zu unterscheiden sei dabei aber zwischen „typischen Risiken, die in der Natur zu erwarten sind“, und „erwartbaren Gefährdungen“, gegen die etwa durch Geländer an steilen Wegen Vorsorge getroffen werden könne. Kennerknecht betont, dass es für die Marienschlucht ein umfassendes, regelmäßiges Kontrollsystem gegeben habe durch Beschäftigte der Gemeinde und das geologische Landesamt. Aus der Rechtsprechung zu Gefahren in der Natur folgert Kennerknecht, „dass eine 100-prozentige Sicherheit leider nicht möglich ist und auch nicht erwartet werden darf“.

Zugang bleibt gesperrt


Die Marienschlucht ist nach dem Unglück vom 6. Mai zumindest für dieses Jahr von allen Zugangsseiten für die Öffentlichkeit gesperrt. Es bestehe Lebensgefahr, weil es nicht auszuschließen sei, dass es weitere Nachrutschungen geben könne, so der Allensbacher Bürgermeister Helmut Kennerknecht. Dies betreffe auch die Uferwege, von denen mindestens Teile als kritisch einzustufen seien. So sei beispielsweise auf dem Weg Richtung Bodman ein Baum abgestürzt.

Bis etwa Ende Juni werde die Situation in der Schlucht und auf den Wegen beobachtet. Danach solle das geologische Landesamt entscheiden, ob die Schlucht wenigstens zur Erkundung und zur Entfernung größerer Abbruchteile wieder von Helfern betreten werden könne. „Klar ist, man kann erst Rettungskräfte in die Schlucht hinein lassen, wenn geologisch festgestellt worden ist, dass eine hinreichende Sicherheit vor Nachrutschungen besteht“, so Kennerknecht.

Für die Öffentlichkeit wird die Marienschlucht vermutlich erst in ein paar Jahren, möglicherweise auch gar nicht mehr geöffnet. „Keiner kann heute eine Aussage machen, wie es mit der Marienschlucht weitergeht“, so Kennerknecht. Hierzu müssten die Gemeinden Allensbach und Bodman-Ludwigshafen, das Haus Bodman und das geologische Landesamt erst klären, welcher Aufwand notwendig sei, um die Schlucht wieder so herzurichten, dass sie für die Allgemeinheit freigegeben werden könnte.

Trotz der Absperrungen und Warnschilder an allen Zugangswegen zur Marienschlucht sind dort in den Tagen nach der Katastrophe immer wieder Leute eingedrungen. Der Allensbacher Ortsbaumeister Harald Seidler, der gemeinsam mit anderen Helfern der Gemeinde die mannshohen, massiven Sperren dreimal wöchentlich überprüft, berichtet allein von neun Leichtsinnigen, die er an einem Nachmittag gesehen hat. Bürgermeister Kennerknecht reagiert darauf mit Kopfschütteln. „Diesen Leuten ist nicht zu helfen.“ Und zudem sei es eine Ordnungswidrigkeit, die angezeigt werden könne, wenn Wanderer das Betretungsverbot missachten.