Momentan ist die Ausgangslage für Cem Özdemir alles andere als rosig: Wäre nicht erst am 8. März 2026, sondern schon jetzt Landtagswahl, kämen die regierenden Grünen einer Umfrage zufolge mit gut zehn Prozentpunkten hinter der CDU ins Ziel und müssten das Amt des Ministerpräsidenten an CDU-Chef Manuel Hagel abgeben.
Am Samstag wollen die Grünen in Baden-Württemberg den ehemaligen Bundeslandwirtschaftsminister offiziell zu ihrem Spitzenkandidaten küren. Ist das angesichts der derzeitigen Umfragen ein Himmelfahrtskommando? Oder kann Özdemir das Ruder bis zur Wahl rumreißen und den Grünen nach den 15 Jahren Regierung von Winfried Kretschmann die Macht sichern?
Den Kopf müsse Özdemir nicht in den Sand stecken, meint Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim. «Stand jetzt sind die Chancen aber sehr gering.»
Das spricht für Özdemir
Seine Bekanntheit
Seit vielen Jahren rücken bei Wahlen immer stärker die Kandidaten in den Fokus. Die Grünen plakatierten schon vor 10 Jahren «Grün wählen für Kretschmann» und hoffen nun wieder auf den Kandidatenbonus. Denn außer dem amtierenden Ministerpräsidenten ist kein Politiker aus dem Südwesten so bekannt wie Cem Özdemir. Landtagswahlen seien zunehmend Persönlichkeitswahlen, sagt auch der Freiburger Politikforscher Michael Wehner: «Und da hat Özdemir die Nase vorne».
Könnten die Menschen im Land den Regierungschef direkt wählen, würde der Grüne deutlich gewinnen: Einer aktuellen Umfrage von Infratest dimap im Auftrag von SWR und «Stuttgarter Zeitung» zufolge wünschen sich 39 Prozent der Befragten Özdemir als Ministerpräsidenten. Seinen CDU-Konkurrenten Manuel Hagel wünschen sich mit 18 Prozent nicht einmal halb so viele Befragte.
Seine rhetorischen Fähigkeiten
Dass er die Fähigkeit hat, Menschen mit seinen Worten zu erreichen, zeigte Özdemir während der Bauernproteste immer wieder. Er schaffte es, aufgebrachte Landwirte bei Veranstaltungen zumindest zum Zuhören zu bringen - manchmal sogar Verständnis zu wecken. «Özdemir kann sehr gut argumentieren», sagt Kommunikationswissenschaftler Brettschneider. Rhetorisch sei der Grüne gut geschult, es gelinge ihm, die Argumente der Gegenseite aufzugreifen und seine eigenen dagegenzusetzen. Diese Fähigkeiten kämen aber vor allem in einem städtischen Wählersegment gut an. Mit Blick auf das Land sei die bodenständige Art des CDU-Konkurrenten Manuel Hagel kein Nachteil, meint Brettschneider.
Sein Kurs der Mitte
Özdemir wird genauso wie der noch amtierende Ministerpräsident Winfried Kretschmann zum Realo-Flügel der Partei gezählt. In seinem Bewerbungsschreiben betont er Werte wie Heimatverbundenheit, Sicherheit und Schaffergeist. Diese Positionierung als eher konservativer Grüner sieht Kommunikationswissenschaftler Brettschneider als wichtig für Özdemirs Chancen im Südwesten. «Das ist in Baden-Württemberg ein Muss. Anders hätte er keine Chance.» Ob dieser Kurs auch im linken Teil der Partei mitgetragen wird, dürfte ebenfalls die Wahlchancen Özdemirs beeinflussen, meint Politikforscher Michael Wehner: «Solange es keine Störmanöver etwa von der Grünen Jugend gibt, ist das ein Vorteil.»
Die Bundesregierung
Seit seinem Ausscheiden als Bundeslandwirtschaftsminister hat Özdemir keinen direkten Einfluss mehr auf die Arbeit der Bundesregierung - dennoch dürfte die Politik der schwarz-roten Koalition große Auswirkungen auf seine Chancen bei der Landtagswahl haben, meint Brettschneider: «Özdemirs Hoffnungsträger ist Friedrich Merz.» Gelinge es dem Bundeskanzler nicht, eine zufriedenstellende Politik zu machen, dann wäre das auf Landesebene ein Schub für Özdemir. Allerdings könnte eine große Unzufriedenheit mit der Bundesregierung auch eher auf das Konto der AfD einzahlen als auf die Werte der Grünen.
Das spricht gegen Özdemir
Die Umfragen
Klar, Umfragen messen nur die gegenwärtige Stimmung von Wählerinnen und Wählern. Trotzdem sind die Werte der Grünen im Land seit Monaten wie festgetackert: rund um 20 Prozent - während die CDU stabil vorne liegt. Bei den Grünen erinnern sie daran, dass vor der Wahl 2016 die CDU in den Umfragen teils weit über 40 Prozent lag und am Ende trotzdem die Grünen gewannen.
Aber: So richtig scheint der Kandidat Özdemir den Umfragewerten seiner Partei bislang nicht zu nützen. Nach der Bekanntgabe seiner Kandidatur ging es zwar vier Prozentpunkte nach oben, in der jüngsten Umfrage verlor die Partei aber wieder zwei Prozentpunkte. Der Infratest-dimap-Umfrage zufolge gibt es zudem bei der Frage, wer die künftige Landesregierung anführen soll, einen Wunsch nach Wechsel. Demnach würden 42 Prozent der Befragten eine CDU-geführte Landesregierung bevorzugen. Für eine Regierung unter Führung der Grünen sprachen sich 29 Prozent aus.
Politikforscher Wehner warnt aber auch vor zu frühen Schlüssen. «Die Zahl der Spätentscheider hat in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen», sagt er. Die heiße Phase des Wahlkampfes werde erst im Januar 2026 beginnen.
Die Themen
Migration, Wirtschaft, Arbeitsplätze - die Themen, die derzeit die politische Debatte bestimmen, kommen den Grünen nicht gerade entgegen. Auf keinem der Felder traut eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler der Partei der jüngsten Umfrage zufolge überzeugende Lösungen zu. «Die Themenlandschaft läuft komplett gegen die Grünen», sagt auch Wissenschaftler Brettschneider. Die Partei sei immer dann stark, wenn Umwelt- und Klimaschutz eine große Rolle spiele. «Derzeit sieht es so aus, dass Wirtschaft den Klimaschutz überlagern wird», sagt Brettschneider. Das könne sich aber auch noch ändern. «Es kann auch sein, dass es ein super heißer Sommer wird und das Thema wieder auf die Tagesordnung kommt.»
Die Vorgeschichte
Bekanntheit kann für Politiker ein Segen sein - sie bedeutet aber auch, dass sich die Mehrheit der Menschen schon eine Meinung gebildet hat. Özdemir wird aus Sicht von Kommunikationswissenschaftler Brettschneider als Berliner Politpromi wahrgenommen. «Er wird verbunden mit seinem Regierungsamt in der Ampel-Koalition», sagt er. Landespolitisch sei er noch nicht aufgefallen. Das könne in einem Landtagswahlkampf auch ein Nachteil sein.
Auch unter Landwirten dürfte der ehemalige Agrarminister nicht nur Freunde haben, verbinden sie ihn doch mit der Streichung von Subventionen für den Agrardiesel. Allerdings, meint Brettschneider, habe Özdemir bei den Bauernprotesten auch Punkte gemacht. «Er hat sich da nie weggeduckt. Das hat ihm auch Respekt eingebracht.»