Noch sind keine Aufnahmestopps bekannt geworden, doch schon zu Beginn der vergangenen Woche mahnte Landkreistagspräsident Joachim Walter: „Wir nähern uns bei der Flüchtlingsaufnahme einem Kipppunkt.“ Mehr als eine Million Ukrainer sind in diesem Jahr nach Deutschland geflüchtet, was auch die Kreise und Kommunen in Baden-Württemberg vor Herausforderungen stellt. Zumal die Zahl der Flüchtlinge, die nun weniger über die Balkanroute, aber verstärkt über das Mittelmeer in die EU zu gelangen versuchen, ebenso wieder ansteigt.
Das Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge (BAMF) registrierte seit Jahresbeginn bis einschließlich September fast 155.000 Menschen, die einen Asylantrag gestellt haben – eine Zunahme von fast 35 Prozent im Vergleich zu Vorjahreszeitraum. Prognosen gehen davon aus, dass es bis Jahresende 200.000 Menschen sein werden.
Die meisten Flüchtlinge stammen demnach aus Syrien, wo immer noch der Bürgerkrieg tobt, und Afghanistan, wo die Taliban im August 2021 die Macht übernahmen. Dennoch steht die Ukraine im Fokus der politischen Aufmerksamkeit.
Mehr als 130.000 Ukrainer im Südwesten
Nach Angaben des für Migration zuständigen Justizministeriums in Stuttgart sind in Baden-Württemberg seit Jahresbeginn 132.000 ukrainische Geflüchtete untergekommen. 18.000 Asylsuchende wurden zudem in den Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes registriert, insbesondere Syrer, Türken, Iraker und Afghanen. Hinzu kamen noch rund 2800 Personen aus humanitären Aufnahmeprogrammen des Bundes.
Die Folge: „Wie in den Erstaufnahmeeinrichtungen ist die Lage auch in den Stadt- und Landkreisen und auf kommunaler Ebene äußerst angespannt“, sagt Ministerin Marion Gentges auf Anfrage des SÜDKURIER. Die Unterbringung von Geflüchteten aus der Ukraine und von Asylbewerbern sei „nur unter Mobilisierung aller Reserven zu bewältigen“.

Da kommen Erinnerungen an das Flüchtlingskrisenjahr 2015 auf. Dabei hat Baden-Württemberg bereits jetzt deutlich mehr Menschen aufgenommen als im gesamten Jahr 2015: Damals waren es rund 101.000 Asylsuchende.
Wirklich vergleichbar ist die Lage aber dennoch nicht: Zum einen, weil Ukrainer für 90 Tage visafrei einreisen dürfen und auch dann kein Asyl beantragen müssen, sondern unter die Richtlinie des vorübergehenden Schutzes fallen – auch deshalb sind in den Landeserstaufnahmeeinrichtungen (LEA) überwiegend Asylsuchende und „damit nicht-ukrainische Geflüchtete“ untergebracht, so Sprecherin Anna Härmle. Zum anderen, weil viele Ukrainer privat unterkommen.
Zahl der Asylsuchenden steigt
Denn während Asylsuchende verpflichtet sind, bis zu mehreren Monaten in den Erstaufnahmeeinrichtungen zu wohnen, sieht das Flüchtlingsaufnahmegesetz lediglich eine optionale Erstaufnahme für Geflüchtete aus der Ukraine vor. „Aufgrund des erheblichen Anstiegs von Asylsuchenden werden Geflüchtete aus der Ukraine derzeit entweder direkt oder nur mit kurzfristigen Aufenthalten in der Erstaufnahme auf die Stadt- und Landkreise verteilt“, ergänzt Härmle.
Obwohl viele Ukrainer privat unterkommen, werden in den Landkreisen zunehmend Notunterkünfte gebraucht, wie auch ein Blick in die Region zeigt.
Die Lage im Kreis Konstanz ist angespannt
So sind im Kreis Konstanz bereits fünf von sechs Kreissporthallen als Notunterkünfte in Benutzung. 3300 Ukrainer sind im Kreis, davon kamen nach Datenlage des Regierungspräsidiums aber etwa 2300 privat unter. Trotzdem sind bereits fünf von sechs Kreishallen als Notunterkünfte in Gebrauch. Noch gibt es Kapazitäten, etwa 280 Plätze (Stand: 7. Oktober 2022) können genutzt werden. Hinzu kommt eine Notunterkunft in Radolfzell mit 180 Plätzen. Bald aber könnten auch diese Kapazitäten ausgereizt sein.

Zusätzliche Unterkünfte sollen gebaut werden, Leichtbauhallen sind in Planung. Doch es braucht zwei bis drei Monate, um sie bezugsfertig zu machen. Gemeindehallen dagegen wären binnen drei bis vier Wochen in Notunterkünfte umzugestalten. Auch deshalb ist nicht ausgeschlossen, dass Turnhallen der Gemeinden im Notfall genutzt werden müssen.
Nur mit deutlichen Worten seitens des Landrats Zeno Danner stimmte der Kreisrat im Landkreis Konstanz zu: „Was machen wir denn, wenn über Kiew eine Atombombe gezündet wird?“ Dann kämen noch mehr Menschen, die Hilfe brauchen. Und das, so Danner, „ist wichtiger als Vereinssport“.
Im Notfall müssen Turnhallen herhalten
Der Unmut darüber ist dennoch spürbar, wie ein lokales Beispiel zeigt. So hatte die Stadt Singen unlängst mit einer Resolution eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge gefordert und moniert, diese würden im Kreis ungleich verteilt. Die Turnhallen sollten für Vereins- und Schulsport möglichst frei bleiben, lautete die Forderung.
Das Landratsamt Konstanz teilt auf Nachfrage mit: „In Singen wurden alle Vereine, die weichen mussten, wieder untergebracht.“ Und: „Der Pflichtunterricht kann in allen Schulen vollständig abgedeckt werden“, betont man.

Singens Bürgermeister Bernd Häusler hält die Verteilung dennoch für ungerecht. Über seinen Sprecher Stefan Mohr lässt er mitteilen: „Insbesondere viele kleinere Kommunen im Landkreis haben nach unserer Einschätzung die Quote noch nicht erfüllt.“ Genauer wird er nicht. Singen dagegen habe bereits 2000 Flüchtlinge in der Stadt, darunter etwa 650 Ukrainer.
Das sei nicht nur eine Herausforderung, was die Suche nach zusätzlichen Unterkünften betrifft, sondern auch eine bildungspolitische: „Singener Schulen haben etwa 160 Flüchtlingskinder aus der Ukraine zu beschulen. Das sind über fünf komplette zusätzliche Schulklassen“, macht Mohr klar. Hinzu kämen Geburten von Kindern, die zu gegebener Zeit zusätzlicher Kitaplätze bedürften. „Die Resolution bedeutet nicht, dass Singen keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen wird.“ Das sei eine moralische Pflicht. Allerdings „sind unsere räumlichen Kapazitäten durch die hohe Aufnahme in den vergangenen Jahren erschöpft“, so Mohr.
Im Bodenseekreis wird es eng
Doch die Stadt Singen ist nicht allein mit ihren Nöten: Auch im Bodenseekreis sind bereits Hallen in Gebrauch, um Flüchtlinge unterzubringen. Doch auch hier geht es größtenteils nicht um Ukrainer. So halten sich nach Landratsamtsangaben derzeit etwa 2600 Ukrainer im Kreis auf, aber nur etwa 800 sind in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht.
Zwei zusätzliche Hallen wurden bereits als Notunterkünfte für etwa 120 Schutzbedürftige eingerichtet, zwei weitere mit je 140 Plätzen werden derzeit vorbereitet, eine weitere mit 250 zusätzlichen Plätzen sei in Planung, wie Sprecher Robert Schwarz auf Anfrage mitteilt. Von freien Kapazitäten könne man nicht sprechen, betont er. Dass es eng wird, davon geht man auch hier aus.
Keine Notunterkünfte im Kreis Sigmaringen
Deutlich entspannter gestaltet sich die Lage dagegen im Kreis Sigmaringen, wo knapp 1300 Ukrainer leben. Nur ein kleiner Teil von ihnen, 370, sind in den Gemeinschafts- und Notunterkünften untergebracht. Der Rest hat privat Obdach gefunden. Noch kommt der Kreis ohne Notunterkünfte aus, sagt die Leiterin des Fachbereichs Recht und Ordnung, Anja Schäfer, dem SÜDKURIER.
Zusätzliche Kapazitäten stehen aber in der Oberschwabenkaserne in Hohentengen bereit, so die Beamtin weiter. 180 sind es. Auf Sporthallen muss man hier bislang nicht zurückgreifen.
Freie Hallen im Schwarzwald-Baar-Kreis
Im Schwarzwald-Baar-Kreis machen die Ukrainer dagegen schon den Gutteil der untergebrachten Flüchtlinge aus. Von etwa 800 Flüchtlingen in den Gemeinschaftsunterkünften sind knapp 480 Ukrainer. Trotzdem ist ein Großteil der Ukrainer, 2600 Flüchtlinge, auch hier privat untergekommen, sagt Sprecherin Heike Frank.
Derzeit werden noch keine Hallen genutzt, um die Schutzbedürftigen unterzubringen, wohl aber seien Notbetten in den vorhandenen Gemeinschaftsunterkünften aufgestellt worden, wodurch etwa 200 zusätzliche Plätze geschaffen werden konnten.
Kaum Ukrainer in Unterkünften im Kreis Waldshut
Im Flüchtlingskrisenjahr 2015 waren im Kreis Waldshut laut Sprecher Tobias Herrmann 2000 Menschen in den damals 19 Gemeinschaftsunterkünften sowie in Sport- oder Gemeindehallen des Landkreises untergebracht. Heute sieht es anders aus: Mitte Oktober hielten sich hier 2287 Ukrainer auf, davon sind allerdings fast alle – etwa 2200 – privat untergekommen.
In diesem Monat erst nahm der Kreis eine zusätzliche Gemeinschaftsunterkunft in Betrieb, nun sind es sieben und noch gibt es genügend freie Plätze. Doch Ende des Monats werden die 468 Plätze nach Schätzung Herrmanns wohl belegt sein. Eine zusätzliche Unterkunft wird im November bezugsfertig, dann kommen etwa 50 Plätze hinzu.
Durch die Umverteilung an die Kommunen werden auch immer wieder Plätze frei, ergänzt Hermann. „Wir gehen jedoch davon aus, dass angesichts des anhaltend hohen Migrationsgeschehens weitere Unterkünfte benötigt werden.“ Bislang musste der Kreis allerdings nicht auf Sporthallen zurückgreifen.
Landkreistag sieht derzeit keine Probleme
Zwar sagt der Landkreistag auf Anfrage, dass es bislang noch zu keinen Aufnahmestopps durch Kreise oder Kommunen gekommen sei. Wohl aber, so Sprecher Michael Schlichenmaier, dass „einzelne Unterkünfte nicht im geplanten Zeitrahmen bezugsfertig“ seien, oder „Personalknappheit zu Um- und Neuplanungen zwingt“. In „begründeten Ausnahmesituationen“ sei es möglich, „die Kontingente der Aufnahmeverpflichtung, die jeweils für den gesamten Monat gerechnet werden“, anders zu verteilen, ergänzt er.
Probleme bei der Unterbringung von Flüchtlingen, die aus den Landeserstaufnahmeeinrichtungen in die Kreise und Kommunen kommen, gibt es laut Schlichenmaier nicht. „Die Zusammenarbeit ist nach den uns vorliegenden Erkenntnissen und Rückmeldungen reibungslos und getragen von einem gemeinsamen Geist und dem unbedingten Willen der staatlichen Ebenen des dreistufigen Aufnahmesystems, der gesamtgesellschaftlichen Aufnahme gerecht zu werden“, betont er.
Doch auch im baden-württembergischen Justizministerium erwartet man im Herbst eine Steigerung der Zahl der Flüchtlingszugänge: Seriöse Prognosen ließen sich nicht machen, sagt Sprecherin Anna Härmle. Doch: „Bei den Asylsuchenden ist die Herbstsaison erfahrungsgemäß besonders zugangsstark.“ Die Lage in der Region dürfte also vorerst angespannt bleiben.