Noch immer flüchten hunderttausende Menschen nach Deutschland. Auch in Baden-Württemberg kommen immer mehr Geflüchtete an. 178.000 Menschen hat das Land im Jahr 2022 aufgenommen, so Justizministerin Marion Gentges. Das sind deutlich mehr als 2015 und 2016 zusammen.
Ihre Unterbringung bringt viele Städte ans Limit – auch in unserer Region. Die Kommunen ächzen, die politischen Vorgaben erschweren die Planung und die Ehrenamtler werden weniger.
Städte und Kreise senden einen Hilferuf nach dem anderen aus. Anfang September 2023 schickt Engens Bürgermeister, der Vorsitzende des Städte- und Gemeindetags, einen Brief an die Bundespolitik: „Fast alle Gemeinden im Landkreis stehen mit dem Rücken an der Wand, weswegen wir die Situation nicht mehr weiter hinnehmen können“, heißt es darin.
Nur kurze Zeit später wenden sich die Großstädte Karlsruhe, Mannheim und Freiburg direkt an Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Auch die Landkreise Breisgau-Hochschwarzwald, Konstanz, Lörrach und Ortenaukreis unterzeichnen das Schreiben, in dem es um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge – denn auch deren Zahl steigt drastisch an.
Wie ist die Lage im Detail an Bodensee und Hochrhein, im Schwarzwald und Linzgau? Wir geben den Überblick.
Kreis Konstanz
Im Landkreis Konstanz sind die regulären Unterkunftsplätze Ende September 2023 ausgelastet – 1688 Geflüchtete leben in den Gemeinschaftsunterkünften. In Sporthallen befinden sich keine Unterkünfte: Die Mettnauhalle in Radolfzell, die im vergangenen Sommer zur Flüchtlingsunterkunft umgebaut wurde, ist inzwischen wieder für den Vereinssport freigegeben. Auch in der Kreissporthalle in Singen kann seit mehr als einem Jahr wieder trainiert werden, der Rückbau dauerte Monate. Wie es sich in einer Kreissporthalle lebt, hat Familie Ocheretina uns damals erzählt.
Die drei bestehenden Leichtbauhallen sollen sobald wie möglich abgebaut werden. Stattdessen sucht der Landkreis feste Objekte für die Unterbringung der Geflüchteten. Das Landratsamt geht davon aus, dass die Platzkapazitäten bis auf Weiteres ausreichen werden.
3600 Geflüchtete lebten bereits im April 2023 in Konstanz, doppelt so viele wie vor einem Jahr. Die Stadtverwaltung sah sich am Anschlag.
Improvisieren musste die Stadt schon im vergangenen Jahr. Im Herbst 2022 wurde das riesige Oktoberfestzelt auf dem Klein Venedig-Areal zur Notunterkunft umfunktioniert. Wo sonst gefeiert wurde, fanden Geflüchtete im Winter eine vorläufige neue Heimat.
Doch das Areal wurde im Sommer wieder für Konzerte benötigt, die Geflüchteten zogen ins Industriegebiet in eine Leichtbauhalle, die über 200 Plätze bot. So sieht es darin aus.
Der Vorteil des Systems: Eine Leichtbauhalle kann etwa 400 Menschen ein Dach über dem Kopf bieten. Der Nachteil der Flüchtlingszelte: Sie müssen von Zeltbaufirmen angemietet werden. Aber was kostet den Landkreis Konstanz das alles? Das können Sie hier nachlesen.
Leichtbauhallen sind für die Stadt Konstanz aber nur die letzte Option. Um Geflüchteten eine anständiges Dach über dem Kopf zu bieten, mietete die Stadt im Industriegebiet ein Gebäude. 150 Menschen sollen darin Platz haben – davon profitieren die Geflüchteten. Doch es bleibt dir Frage, ob nicht auch der Vermieter der Immobilie ein großer Profiteur bleibt.
Auch Eigeltingen setzt auf eine Leichtbauhalle. Anfang September 2023 nannte das Landratsamt einen Termin für den Erstbezug – und gab an, wie die weiteren Planungen aussehen.
Die Leichtbauhalle in Rielasingen kann bis zu 350 Menschen Platz bieten. Stand Oktober 2023 leben 135 Menschen dort. Aber: „Die Leichtbauhalle ist eine Notlösung und nicht die Integration, die man leben sollte“, so Bürgermeister Ralf Baumert bei einem Vor-Ort-Termin.
Um den geflüchteten Menschen ein Dach über dem Kopf zu bieten, werden die Kommunen kreativ. In Steißlingen wird eine Container-Wohnanlage in Rekordzeit aufgebaut. In Stockach will die Stadt einen Teil des ehemaligen Schiesser-Geländes kurzfristig umbauen. Aber das Signal, das die Bürgermeister aus dem Hegau aussenden, bleibt eindeutig: Das Ende der Fahnenstange ist erreicht.

Gottmadingen liegt im Soll, was die Aufnahme von Geflüchteten angeht, und muss weiter Raum schaffen – eine Herkulesaufgabe für die Gemeinde. Bedenken gegen die alte Eichendorffschule als Notunterkunft mitten in einem Wohngebiet sind nahezu verstummt.
Anders sieht es mit einem geplanten Flüchtlingshaus in der Hilzingerstraße aus. Nachbarn sorgen sich um den sozialen Frieden – doch der Gemeinderat beschließt im Mai mit großer Mehrheit den Bau des Hauses. Und es braucht in Gottmadingen noch ein weiteres Millionenprojekt, um Flüchtlinge unterzubringen.
Die Gemeinde Mühlingen hat dagegen sogar mehr Geflüchtete untergebracht als gefordert. Viele Hebel mussten dafür allerdings in Bewegung gesetzt werden.
Die Gemeinde Hilzingen muss schon Strafe zahlen, weil die zu wenig Geflüchtete aufgenommen hatte. Die Anmietung des ‚Hotel am Kellhof‘ kam nicht zustande, Hilzingen setzt Stand September 2023 bei der Unterbringung auf Container-Lösungen.
Bodenseekreis
Im Bodenseekreis dient die Sporthalle des Berufsschulzentrums Friedrichshafen als Notunterkunft. Insgesamt fünf Notunterkünfte und 27 Gemeinschaftsunterkünfte betreibt der Landkreis.
Doch die Plätze werden nicht mehr lange ausreichen, sagt ein Sprecher des Landratsamtes im Oktober 2023: „Der Landkreis wird aller Voraussicht nach im kommenden Frühjahr keine geregelte Unterbringung mehr leisten können.“
Dabei sei bereits berücksichtigt, dass mehrere Notunterkünfte betrieben werden und weitere im Aufbau sind. Neue Unterkünfte sollen in einem ehemaligen Supermarkt in Salem und einem ehemaligen Möbelhaus in Tettnang/Bürgermoos entstehen.
Bei Häfler Rektoren lösten die Pläne, die Sporthalle als Flüchtlingsunterkunft zu nutzen, damals gemischte Gefühle aus. Denn Schüler aus 100 Klassen sollten ja auch ihren Sportunterricht bekommen. Die Rektoren sprachen von einem Dilemma. Doch die Schulen haben Lösungen gefunden: mal kreativ, mal etwas umständlich.

Im alten Rathaus in Salem-Neufrach zogen Ende Juni 2023 die ersten Geflüchteten ein. Auf einer Fläche von etwa 1400 Quadratmetern ist Platz für rund 80 Menschen. Einige Umbaumaßnahmen waren nötig, um aus dem ehemaligen Verwaltungsgebäude eine Notunterkunft zu machen. Und so sieht es in der Gemeinschaftsunterkunft aus.
In der alten Turnhalle des Gymnasiums in Überlingen öffnete der Bodenseekreis Anfang November 2022 eine Notunterkunft. Notgedrungen – die Gemeinschaftsunterkünfte waren bereits voll belegt. 18 Wohnboxen gibt es darin, jeweils 20 Quadratmeter groß. Wie schafft man Menschlichkeit in nackten Räumen?

In Markdorf leben Stand Ende März 2023 knapp 250 Geflüchtete in Anschlussunterbringungen oder Privatwohnungen, etwas mehr als ein Drittel sind ukrainische Kriegsflüchtlinge. Hinzu kommen weitere rund 70 Geflüchtete in den Unterkünften des Landkreises. Die Stadt will weiter Wohnraum anmieten – doch die Möglichkeiten sind begrenzt.
Hochrhein
Flüchtlingsunterbringung, Corona-Pandemie, gestiegene Bürokratie und die Energiekrise: Die 32 Gemeinden des Landkreises Waldshut sahen Anfang Dezember 2022 ihre Belastungsgrenze überschritten und forderten: So kann es nicht weiter gehen.
Wie sieht es fast ein Jahr später aus? Im Landkreis Waldshut lebten Anfang September 2023 in den 14 Gemeinschaftsunterkünften 752 Menschen. Die Unterbringungslage sei sehr angespannt, heißt es aus dem Landratsamt. Insgesamt gibt es 944 Plätze für die vorläufige Unterbringung. Diese sind jedoch nahezu ausgelastet. Das gilt auch für die neue Container-Siedlung in Tiengen, die erst kürzlich eingerichtet wurde.
„Wir wissen nicht mehr, wo wir die Menschen unterbringen sollen“, sagt Sozialdezernent Ulrich Friedlmeier.
Auch der Landkreis Lörrach ächzt – und baut wegen der drastisch steigenden Zahlen an unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten im September 2023 auf dem Parkplatz des Freibads in Steinen sogar Zelte auf. Ende Oktober ziehen die ersten minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge dort ein.
In Rheinfelden wird derzeit die Sporthalle der kreiseigenen Gewerbeschule als Unterkunft genutzt. Dadurch kam es zu Kürzungen im Schulsport.
Todtmoos hat zwei ehemalige Hotels zur Gemeinschaftsunterkunft gemacht – und für die Geflüchteten eine Sammelhaftpflichtversicherung abgeschlossen, mehr dazu lesen Sie hier.
Mitte Februar 2023 sorgte ein Fall in Lörrach bundesweit für Aufsehen: Aus Lörracher Wohnungen soll eine Flüchtlingsunterkunft werden. Rund 40 Mieter sollen die Unterkunft verlassen – denn die Stadt braucht den Wohnraum für Geflüchtete. Während manch einer das politisch zu instrumentalisieren versucht, haben verärgerte Bewohner ganz konkrete Sorgen. Wenige Wochen später ist die Aufregung vorbei – war alles heißer gekocht als nötig?
Linzgau-Zollern-Alb
Auch hier bringt die Wohnraumsuche die Städte und Gemeinden an ihre Grenzen. Die katholische Kirche in Meßkirch stellte einen leer stehenden Kindergarten für Wohnungen bereit. Einige Gemeinden, wie etwa Herdwangen-Schönach, haben Wohncontainer angeschafft.
Due Stadt Pfullendorf hat das ehemalige Krankenhaus zur Unterkunft für Geflüchtete umfunktioniert. Im fünften Stock können seit Dezember vergangenen Jahres bis zu 50 Flüchtlinge aus der Ukraine untergebracht werden – 46 Menschen sind es Anfang Juni 2023.

Der Landkreis Sigmaringen verzeichnet von Januar bis September 2023 einen Zuwachs von 248 Prozent im Vergleich zu den ersten neun Monaten des Vorjahres. Aktuell werden keine Sporthallen für die Unterbringung von Geflüchteten genutzt. Das wolle man laut Landratsamt auch künftig möglichst verhindern.
Schwarzwald
Auch im Schwarzwald-Baar-Kreis werden die Plätze knapp. Unterkünfte kommen an ihre Kapazitätsgrenzen und Alternativen fehlen. Landrat Sven Hinterseh kann Stand Oktober 2023 nicht ausschließen, dass Massenunterkünfte wie Sporthallen zurückkommen.
Auch bei der Anschlussunterbringung sieht die Lage schwierig aus. „Wir spüren deutlich, dass sich die Kommunen zunehmend schwer tun, Wohnraum zu finden“, so Jan Hauser, der Leiter des Sozialamtes beim Landratsamt Schwarzwald-Baar.
Zudem wächst der Widerstand in der Bevölkerung: In Mönchweiler wehren sich Anwohner gegen die Einrichtung einer Flüchtlingsunterkunft, auch in St. Georgen wird protestiert.
In Feldberg hatten sich Bürger gegen eine Flüchtlingsunterkunft ausgesprochen, der Gemeinderat entschied sich im September 2023 dennoch mit knapper Mehrheit für eine Nutzung. Knapp zwei Wochen später setzen Unbekannte das Haus unter Wasser. Nun ist es unbewohnbar – die Polizei schließt eine politisch motivierte Straftat nicht aus.