Jörg Zittlau

Sie ähnelt einem zierlichen Schmetterling, weswegen man sie an ihrem Platz am Hals auch nur selten bemerkt. Doch derzeit bekommt die Schilddrüse mehr Aufmerksamkeit als je zuvor. Kein medizinischer Begriff wird öfter im Internet gesucht, kaum ein Organ öfter therapiert und operiert. Es scheint, als ob Schilddrüsenerkrankungen das Ausmaß einer Epidemie erreicht hätten. Doch der Eindruck täuscht.

„Hashimoto“. Hätte man vor 20 Jahren auf deutschen Straßen danach gefragt, wer oder was hinter diesem Namen steckt, hätte man ein verständnisloses Kopfschütteln geerntet. Doch mittlerweile wissen viele zu berichten, dass dahinter eine grassierende Autoimmun-Erkrankung steckt, bei der das fehlgeleitete Immunsystem die Schilddrüse attackiert. Man hört von prominenten Patienten wie TV-Moderatorin Vanessa Blumenhagen und Top-Modell Gigi Hadid, und es werden Mediziner mit Aussagen zitiert, wonach bis zu 13 Millionen Bundesbürger unter Hashimoto leiden sollen. Frauen seien bis zu fünf Mal so oft betroffen wie Männer.

Medizinisch nicht begründbarer Hype

Felix Beuschlein vom Universitätsspital Zürich sieht diese Zahlen skeptisch. Er will zwar nicht ausschließen, dass die Zahl der Hashimoto-Fälle in den letzten Jahren geringfügig angestiegen ist. „Denn sie gehören zu den Autoimmun-Erkrankungen, wie etwa Typ-1-Diabetes“, so der Endokrinologe, „und von dieser Erkrankung wissen wir, dass sie häufiger geworden ist“. Durchaus möglich also, dass dies auch für Hashimoto gelte. „Doch dann dürften die Zuwachsraten auch ähnlich moderat ausfallen wie bei Typ-1-Diabetes, und die reichen nicht aus, um den aktuellen Hashimoto-Hype erklären zu können“.

Beuschlein geht daher davon aus, dass sich der Trend anders erklären lässt: „Es wird schlichtweg mehr Aufmerksamkeit auf Schilddrüsen-Erkrankungen gelegt.“ Und das gelte für Patienten wie für Ärzte. Es kommen also mehr Patienten mit einem von sich aus gehegten Hashimoto-Verdacht in die Praxis, und die Ärzte ziehen diese Erkrankung bereitwilliger in ihre Diagnose-Überlegungen ein als früher. Wenn eine Blutprobe zum Labor geschickt wird, gehört es mittlerweile fast selbstverständlich dazu, dass dort auch die Ermittlung des TSH-Wertes in Auftrag gegeben wird – ist er erhöht, ist das ein Hinweis auf eine mangelnde Hormonausschüttung der Schilddrüse.

Wenn eine Blutprobe zum Labor geschickt wird, wird häufig auch die Ermittlung des TSH-Wertes in Auftrag gegeben -
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Wenn eine Blutprobe zum Labor geschickt wird, wird häufig auch die Ermittlung des TSH-Wertes in Auftrag gegeben - ein Indikator, um den Grad der Hormonausschüttung der Schilddrüse zu bestimmen. | Bild: Jan-Peter Kasper/dpa

Viele Symptome, simple Diagnose

Bleibt die Frage, warum die Schilddrüse so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die Antwort liegt im Wirkungsspektrum des von ihm ausgeschütteten Hormons Thyroxin, zu dem vor allem die Mobilisation des Zucker- und Fettstoffwechsels gehört. Dadurch können Unterfunktionen der Schilddrüse eine breite Palette an Beschwerden auslösen. Wie etwa Müdigkeit, Konzentrationsschwäche, Kälteempfindlichkeit, Haarausfall, brüchige Nägel und Übergewicht. „Das sind allesamt unspezifische Symptome, die auch bei vielen anderen Krankheiten auftreten“, warnt Beuschlein. Doch wenn dann auffällige Schilddrüsenwerte gefunden werden, verführe das zu dem voreiligen Schluss, dass dieses Organ für die Beschwerden verantwortlich sein muss.

Hinzu kommt, dass die Präparate gerne als unbedenklich und risikoarm gepriesen werden, was noch mal den Reiz dieser Behandlung erhöht. Doch diese Einschätzung ignoriert die konkrete Anwendungsweise und Dosierung der Medikamente. Eine englische Studie an über 52 000 Thyroxin-behandelten Patienten ergab, dass knapp sechs Prozent von ihnen viel zu viel Thyroxin produzierten. Die Ärzte hatten also überdosiert. „Und das geht Hand in Hand mit einem gesteigerten Risiko für Krankheiten wie Vorhofflimmern und Osteoporose“, betont Studienleiter Peter Taylor von der Cardiff University.

Zu schnell Medikamente verordnet

Was die Ergebnisse der englischen Studie noch dramatischer macht: 30 Prozent der Patienten erhielten die Medikamente, obwohl ihr TSH-Wert nur knapp unter 10 mU/l (Milli-Einheiten pro Liter) lag, was von den meisten Endokrinologen noch nicht als therapiebedürftig eingeschätzt wird. Und bei knapp 20 Prozent begründete der Arzt die Verordnung mit der Müdigkeit und bei 14 Prozent mit dem Übergewicht seines Patienten, die auch unzählige andere Gründe haben können als eine träge Schilddrüse.

Wer nun argumentiert, dass diese Zahlen ja nur für England gelten, sollte wissen, dass Thyroxin-Präparate hierzulande noch schneller und lockerer verordnet werden. Beuschlein betont, dass für das Einleiten einer Hormon-Therapie mehr vorliegen sollte als nur Müdigkeit, Übergewicht und ein erhöhter TSH-Wert. Außerdem würden für eine gesicherte Hashimoto-Diagnose selbst mehrere TSH-Erhöhungen nicht als sicheres Kriterium ausreichen, „da sollten auch die Entzündungswerte erhoben und möglicherweise auch ein Ultraschallbild gemacht werden“.

Sollte sich nach diesen Diagnose-Schritten der Hashimoto-Verdacht erhärten, besteht kein Grund zur Panik. Die Erkrankung ist zwar unheilbar, aber man kann mit ihr leben. Und das in der Regel genauso lang wie andere Menschen auch.