Hohe Räume, verwinkelte Gänge und rundherum Platz: Eine ehemalige Sprudelfabrik im Neckartal ist heute ein Mehrgenerationenhaus. Drei Generationen wohnen zusammen unter einem Dach. „Das Projekt hat uns ein bisschen verzaubert“, sagt Piret Rebassoo. Die 33-Jährige sitzt mit Sonnenhut und Sommerkleid auf der Terrasse. Vor einem Jahr ist sie mit ihrem Mann und ihrem damals noch ungeborenen Sohn in die Sprudelfabrik in Eyach im Kreis Freudenstadt eingezogen. „Bei unserem ersten Besuch hat die Gruppe Freiheit, Toleranz und Herzlichkeit ausgestrahlt. Als ob wir uns gekannt hätten“, sagt Rebassoo. Zwölf Bewohner hat die ehemalige Fabrik – neun Erwachsene und drei Kinder. Sie liegt mitten im Nirgendwo und doch nur 20 Minuten Zugfahrt von Tübingen entfernt. Bis vor 25 Jahren wurde hier Kohlensäure abgefüllt. Das Haus hat rund 800 Quadratmeter Nutzfläche, das Gelände ist 12000 Quadratmeter groß.
Das Modell hat Seltenheitswert: Denn Haushalte, in denen Eltern, Kinder und Großeltern zusammenleben, sind in Deutschland rar. In gerade einmal 0,5 Prozent aller Haushalte wohnen drei oder mehr Generationen zusammen. In den vergangenen zwanzig Jahren ging die Zahl der Mehrgenerationenhaushalte sogar deutlich zurück: Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamts schrumpfte die Zahl der Haushalte mit drei Generationen oder mehr von 351.000 im Jahr 1995 auf 209.000 im vergangenen Jahr, ein Rückgang von 40,5 Prozent, wie Präsident Dieter Sarreither sagt. Die Statistikexperten wiesen jedoch auch darauf hin, dass oftmals mehrere Generationen einer Familie zwar nicht in einem Haushalt wohnen, aber durchaus im selben Haus oder nicht besonders weit voneinander weg an verschiedenen Orten.
Welche Vorteile der Zusammenhalt haben kann, zeigt das Projekt im Neckartal. Jede Familie hat ihre eigene Wohnung. Wer jemanden besuchen will, muss vorher an der Tür klopfen. Das Herz des Hauses ist die frühere Abfüllhalle für Kohlensäure, die Besitzer Andreas Laurenze (68) zum Wohnzimmer umgebaut hat. Hier können die Bewohner in Sesseln im Kreis sitzen, sich ihre Lieblingsfilme vorstellen und Aktionen planen – Musik- oder Kinoabende schweben ihnen vor.
Die Ideen sprudeln. Die junge Mutter Piret Rebassoo hat sich bewusst gegen eine Vorgartenidylle am Stadtrand entschieden und sagt: „Man hat hier viel Platz zum Spielen und Spinnen, auch als Erwachsener.“ Andreas Laurenze hat das Anwesen vor gut zwei Jahren gekauft, um mit drei anderen „Oldies“, wie der Psychologe sagt, das Mehrgenerationenprojekt aufzubauen. Die Mitstreiterinnen: Seine Partnerin Mechthild (67), Jutta Scharffenberg (67) und ihre Partnerin Ute Rohlf (71). Die „Oldies“ mögen die Lebendigkeit, die mit den Kindern eingezogen ist. In der Sprudelfabrik könne man nicht in einen Trott verfallen, sagt etwa Ute Rohlf und bückt sich nach dem quengelnden Enkel ihrer Partnerin, der gerade zu Besuch ist. Das schätzt sie.
Früher war das Zusammenleben mehrerer Generationen normal. Eine Renaissance dieser Idee ist im deutschsprachigen Raum seit Ende der 1990er -Jahre zu beobachten, wie die Expertin für Architektursoziologie, Barbara Zibell, erklärt. Die Bedeutung von Wahlfamilien wachse wegen des Zerfalls traditioneller Familienstrukturen. Junge Leute müssen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf stemmen, Alte hegen den Wunsch, so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden zu bleiben.
Wer in der Sprudelfabrik wohnt, sucht Gemeinschaft. Für eine Zweckgemeinschaft will sich Jutta nicht hergeben: „Es muss mehr sein als: Die Alten hüten die Kinder.“ Die Alten stellen gleichzeitig auch nicht den Anspruch, später mal gepflegt zu werden. „Da muss sich schon jeder selbst drum kümmern“, findet Gründer Andreas Laurenze.