Dies ist die Geschichte eines 16-Jährigen Mädchens, einer hilflosen Familie und eines ratlosen Schuldirektors, der sich mit Mutmaßungen konfrontiert sieht, die meist mit „hätte“ und „wenn“ beginnen. Das Mädchen heißt Sarah O., Schauplatz des Geschehens ist ausgerechnet Konstanz, das allen, die aus Berlin, aus Köln, selbst aus Mannheim anreisen, wie eine heile Welt vorkommen muss.

Doch von heiler Welt wollte Sarah O. nichts wissen – Sarah zog in den „Heiligen Krieg“, den Dschihad. Dies ist die Geschichte einer 16-Jährigen, die nach Syrien reiste, um sich dort einer Terrormiliz anzuschließen. Die die zehnte Klasse des Alexander-von-Humboldt-Gymnasiums in Konstanz verlässt, ihr bisheriges Leben über Bord wirft und sich heute Amatul Azis Al-Muhajira nennt: Al-Muhajira wird häufig von Dschihadisten verwendet, der Name heißt so viel wie auswandern. Dies ist eine Spurensuche.

Ihr Zuhause: Sarahs Auszug in den Heiligen Krieg beginnt in Petershausen. Der Teil des Wohngebiets, in dem Sarah mit ihrer Schwester und ihren Eltern lebte, ist nicht gerade das, was man sich gemeinhin unter Bodensee-Idylle vorstellt. Wohnblocks aus der Wirtschaftswunderzeit reihen sich aneinander, dazwischen liegt ein Spielplatz, der Ausländeranteil ist hier höher als in meisten anderen Vierteln von Konstanz. Aber Petershausen ist eben auch kein Ghetto, keine Parallelwelt. Familien leben hier, die bezahlbaren Wohnraum in der Stadt suchen und die ruhige Lage zu schätzen wissen. So wie Familie O. Nach allem, was man über sie hört, ist es eine bürgerliche Familie, die Wert auf Bildung legt, ein unauffälliges Leben führen will, beide Töchter besuchen das Gymnasium.

Vor dem Haus der Familie haben Kinder mit Kreide bunte Zeichnungen auf die Straße gemalt, an einem Ständer sind Fahrräder angekettet. Wer hierherkommt, um mit den Eltern von Sarah zu sprechen, ihre Sicht der Dinge zu erfahren, wird enttäuscht: Zu viele Journalistenfragen sind in den vergangenen Tagen auf sie eingestürzt. Von Bild-Zeitung bis RTL – alle wollen mehr über das Dschihadisten-Mädchen wissen, der SWR ist sich nicht zu schade, Mutter und Vater vor der Haustür aufzulauern. Zuviel für die Familie, die gerade damit fertig werden muss, dass ihre minderjährige Tochter in einem unbarmherzigen Krieg verheizt werden könnte. Familie O. will keine Fragen mehr beantworten. Für sich selbst wird sie dies aber tun müssen: Wie konnte es so weit kommen?

Sarah O. soll regelmäßig islamistisch gefärbte Videos angeschaut haben, geht nur verschleiert auf die Straße, umgibt sich mit anderen Frauen, die sie in ihren extremistischen Gedanken bestärken. Arabischstämmige Männer, die Mohammed O. kennen, sagen, er habe viel gearbeitet, er hat einen Job in der Schweiz, die Mutter, eine Deutsche, sei seit längerem krank. In der Moschee wurde die zum Islam konvertierte Frau schon seit längerem nicht mehr gesehen. Als die Kinder noch klein sind, kommt Frau O. immer mal wieder zum beten, sie trägt ein Kopftuch und einen langen Mantel – aber keinen Gesichtsschleier, wie Sarah O. das will. Im Sommer 2011 erlauben die Eltern, dass ihre Tochter den Sommer in Algerien verbringt, dort eine Religionsschule besucht. Gut zwei Jahre später fälscht sie die Unterschrift ihres Vaters, um als Minderjährige in den Nahen Osten fliegen zu können.

Ihre Zeit am Humboldt-Gymnasium Konstanz: Das Humboldt-Gymnasium ist ein Ort, den man gerne als altehrwürdig bezeichnet. Die Inneneinrichtung hat schon bessere Zeiten erlebt, der PVC-Boden schlägt Wellen – doch das Humboldt ist eine lebendige Schule mitten im Stadtteil Paradies. Die Schule versteht sich als liberaler Ort, in dem man jugendliches Auflehnen diskutiert, aber eben auch respektiert. Ein Raum im Obergeschoss heißt Minarett-Zimmer, weil man vom Fenster aus das Minarett der Moschee sehen kann. „Bei Sarah hätte ich nie gedacht, dass so etwas passieren könnte“, sagt Schulleiter Jürgen Kaz im Gespräch mit dem SÜDKURIER.

Dass sich Kinder in der Pubertät verändern, sich ausprobieren, provozieren, das sind die Lehrer am Humboldt gewohnt. In den vergangenen Jahren hat sich die Schule wie die meisten anderen auch ein wahres Netzwerk aufgebaut, das Fälle von Mobbing, Anzeichen eines Amoklaufes, beginnende Drogensucht sofort registriert. „Hier greifen unsere Mechanismen ganz automatisch“, sagt Kaz. Aber ein damals noch 15-jähriges Mädchen, das sich einer syrischen Miliz anschließt?

Im Nachhinein wird so manches interpretiert, über das die Schule vor einem halben Jahr noch hinweggesehen hat. Dass Sarah sich zurückzieht. Ihr Gesicht verschleiern will. Mit schwarzen Handschuhen zum Unterricht erscheint. Dem Rektor nicht mehr die Hand gibt, weil er ein Mann war. Nicht mehr am Schwimmunterricht teilnimmt, obwohl ihr angeboten wird, einen Burkini zu tragen. „Wir haben mit Sarah immer offen darüber diskutiert, aber wir sahen das als pubertäre Entwicklung, die schon vorübergehen würde“, gibt Jürgen Kaz zu.

Sarah sei ein aufgeschlossenes, kluges Mädchen gewesen, gut in die Schulgemeinschaft integriert, sie habe mit den Lehrern diskutiert über ihre religiöse Einstellung. Ob Jürgen Kaz eine Lehre aus dem Erlebten zieht? Er zuckt die Schultern: „Es besteht die Gefahr, dass wir in anderen Fällen intoleranter auftreten.“

Im Humboldt-Gymnasium ist Sarah aber nicht nur im Lehrerzimmer dauerpräsent. Ein Junge aus der 11. Klasse des Gymnasiums erinnert sich noch sehr gut an die Mitschülerin. „Sie ist schon sehr aufgefallen“, sagt er. Vor allem nachdem sie verschleiert in der Schule erschienen sei. Dann sei sie einfach verschwunden. Einer seiner Schulkameraden habe jedoch vor zirka zwei Monaten verstörende Bilder von ihr erhalten. Auf diesen sei sie mit einem Maschinengewehr in der Hand zu sehen gewesen, erzählt er. Auch eine Schülerin der 12. Klasse hat Sarah noch vor Augen und begründet dies ebenfalls mit ihrer Kleidung: „Sie war die einzige an der Schule, die einen Schleier trug.“

Ihre Spuren im Netz: Sarah selbst gibt keine Auskunft über ihre Motivation – doch das Mädchen hat überall im Netz seine digitalen Fingerabdrücke hinterlassen hat. Die Schülerin ist aktiv in den sozialen Netzwerken, postet Fotos von sich mit Waffen und in voller Verschleierung, erhebt sich zur Missionarin ihres Glaubens, als Arbeitgeber gibt sie „Allah“ an. „Und wenn unsere Löwen schlafen, tragen wir die Verantwortung für die Ummah!“, schreibt Sarah in ihrem Facebook-Profilbild. Löwen – das sind die kämpfenden muslimischen Männer, Ummah die islamische Gemeinschaft.

Sie berichtet von ihrer Heirat mit dem aus Köln stammenden Ismail S. Die Facebook-Seite ist inzwischen blockiert. Auf ihrer google-Plus-Seite stammt der letzte Eintrag vom Januar 2013. Das Logo, das sie zu dieser Zeit verwendet, wird von Al Kaida und Al-Kaida-nahen Gruppen genutzt. Darauf ist ein Text kalligrafiert, den auch die Muezzine singen: „Allah ist der Größte, es gibt keinen Größeren außer Allah und Muhammad ist sein Prophet.“ Der Schriftzug Tubaa-lil Ghuraba heißt so viel wie: fern der Heimat sein, beziehungsweise zurück in die Heimat ziehen; er wird häufiger im Zusammenhang mit dem Dschihad gezeigt. Inzwischen scheint sich Sarah über andere virtuelle Kanäle auszutauschen, die weniger öffentlich einsehbar sind. Für den Verfassungsschutz steht fest: Das Internet ist inzwischen der größte Tummelplatz für Extremisten aller Richtungen – eine Propaganda-Plattform. Sarahs Parallelwelt ist kein Migranten-Block, Sarahs Parallelwelt ist das Internet.

Doch was sagen all diese Postings, die Sprüche und Angeberposen aus über ein Mädchen in der Pubertät? Was ist Propaganda, die ihr zugeflüstert wird, was ist Tatsache? Wie wird sie zu der, die sie heute ist? Noch im Jahr 2008 spurtet sie mit Klassenkameradinnen beim Konstanzer Altstadtlauf über die Zielmarkierung, heute ist sie im Visier des Verfassungsschutzes und des Landeskriminalamtes, die davon ausgehen, dass Sarah nicht nur als Unterstützerin der selbsternannten Gotteskrieger, sondern als Kämpferin in der Nähe von Aleppo unterwegs ist. Mädchen wie Sarah hätten sich in den 80er-Jahren aus Protest die Haare grün gefärbt. Heute simsen sie an ihre Freundinnen: „Bin bei Al Kaida“ und zeigen eine Waffe.

Ihre Suche nach der Identität: Wer sich bei Experten und in ihrem Umfeld umhört, kann zumindest ein grobes Bild der Konstanzer Schülerin zeichnen. „Schauen Sie mal in die Vita des Mädchens“, rät die Islamismusexpertin Claudia Dantschke. „Das Mädchen ist bikulturell.“ Die Mutter der 16-Jährigen ist Deutsche, der Vater Algerier – die Frage, wohin sie selbst gehört, muss Sarah beschäftigt haben, spätestens als sie ins Teenager-Alter kommt und eine eigene Identität ausbildet. Sarah fühlt sich als Muslima nicht immer angenommen in Deutschland, das erzählen zumindest Nachbarsmädchen. „Bei Salafisten sind alle Muslime, unabhängig von ihrer Herkunft, des Status’ der Eltern gleich“, erklärt Claudia Dantschke.

Gerade für junge Mädchen kann es attraktiv sein, Anerkennung und eine klar definierte Rolle zugewiesen zu bekommen. Aus der Ohnmacht erwächst Macht, nicht mehr man selbst ist das Opfer, sondern alle anderen, die „Ungläubigen“ . Dantschke: „Manche fühlt sich erst dort richtig als Frau anerkannt, Frauen mit Kopftuch, die sich hier unterdrückt fühlen, können in der muslimischen Welt endlich leben ohne sich rechtfertigen zu müssen.“ Auch Sarah schreibt im Internet, dass es für sie wie eine Befreiung ist, mit verschleiertem Gesicht auf die Straße zu können.

Ihr Besuch in der Moschee: In der Moschee in Petershausen schüttelt man nur den Kopf wenn die Rede auf die Schülerin kommt. Die Furcht, mit Extremisten in Verbindung gebracht zu werden, sitzt tief in der muslimischen Gemeinde. „Seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie schreiben“, bittet die Vorsitzende der Moschee, Peyman Özen. „Wir wollen nur Frieden.“ Die Moschee in der Reichenaustraße gilt nicht gerade als Hort von Islamisten, Özen selbst trägt kein Kopftuch, ist um ein gutes Verhältnis mit den Nachbarn bemüht. Erst im letzten Jahr hat der Imam einem jungen Salafisten Hausverbot erteilt.

„Wir wollen keine extremen Leute in unserer Moschee“

Die Familie O. selbst hat sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen, vor Jahren sei die Mutter mit ihren Töchtern in das Gebetshaus gekommen, habe aber keinen Kontakt zu den anderen Gemeindemitgliedern gesucht. Nur im vergangenen Jahr, da sei ihr Sarah nochmal aufgefallen. Mit einer ganzen Gruppe von verschleierten Frauen sei sie aufgetaucht – viele von ihnen offenbar Konvertitinnen – und habe nach einem Raum für regelmäßige Treffen gefragt. Den Betreibern des Konstanzer Gebetshauses kommt das Auftreten der komplett in schwarz gekleideten und verhüllten Frauen nicht geheuer vor, sie lehnen ab – sehr zum Ärger der Gruppe. „Wir wollen keine extremen Leute in unserer Moschee“, sagt Peyman Özen.

So ungern sie über das Thema spricht: Der Fall der 16-Jährigen Sarah beschäftigt Özen. Von Nachbarn der Familie weiß sie, dass die Umgebung der O.’s besorgt ist: „Alle sind sehr traurig.“ Über die Gründe, die Sarah bewegen, kann auch sie nur rätseln. Ein anderes muslimisches Mädchen habe erzählt, dass sie sich in Deutschland nicht angenommen fühlt. „Aber die Eltern waren doch bemüht, ihrer Tochter alles zu ermöglichen“, sagt Özen.

Ihre Akte bei der Polizei: Auch bei der Konstanzer Polizei will man zunächst am liebsten gar nicht über den Fall sprechen. Der Aufenthaltsort des Mädchens sei bekannt, damit sei das Thema erledigt, heißt es. Doch ganz so einfach ist der Sachverhalt nicht, das muss schließlich auch der Polizeisprecher einräumen. Die Eltern halten die Vermisstenanzeige für ihre minderjährige Tochter aufrecht, der Fall liegt weiter bei den Ermittlern. Und die stehen vor einer schwierigen Aufgabe.

Die wehrhafte junge Frau beschäftigt die Behörde schon seit geraumer Zeit. Im Internet werden die Ermittler auf sie aufmerksam – doch zunächst sehen sie in dem damals noch 15-jährigen Mädchen ein Opfer. „Es hat geheißen, dass sie gegen ihren Willen in die Türkei gebracht werden soll“, erklärt Kripo-Sprecher Bernd Schmidt. „Und das wäre eine Straftat.“ Die Konstanzer Beamten gehen schließlich am 30. Oktober 2013 zur Wohnung von Familie O., wo sie nicht nur den verdutzten Vater, sondern auch Sarah trafen. Schon am nächsten Tag aber, an Allerheiligen, es sind gerade Herbstferien, steht Mohammed O. in der Konstanzer Dienststelle und meldet sein Mädchen als vermisst. „Wir sind von einer Entführung ausgegangen und haben zunächst die Flugplätze überprüft“, sagt Schmidt.

Doch am Montag, es ist der 4. November, ruft Sarah bei ihrem Vater an, erzählt von ihren Plänen. An diesem Tag wird sie vom vermeintlichen Opfer zur mutmaßlichen Täterin. Ihr Handy wird in der Türkei geortet, später in der syrischen Stadt Aleppo. Die Türkei ist ein beliebtes Transit-Land für sogenannte „Dschihad-Touristen“, die Kontrollen an den Grenzen gelten als dünn. Seit längerem gibt es Kritik aus Europa, Istanbul tue zu wenig gegen die Durchreise ausländischer Kämpfer.

„Eine Islamistenszene gibt es in Konstanz nicht“

Was Sarah in der Bürgerkriegsregion vorhat, wird spätestens dann deutlich, als erste Informationen von ihr nach Deutschland kamen. Über den Online-Dienst Viber schickt Sarah Bilder und Nachrichten an ihre Freunde und Schulkameraden, manche der Fotos zeigen sie mit Waffe, weshalb die Kriminaler inzwischen vermuten, dass sie nicht nur moralische, sondern militante Unterstützung geben will. Als Ausländer in einen Bürgerkrieg einzugreifen, zumal auf der Seite terroristischer Gruppierungen, ist streng verboten, in Deutschland wurden bereits mehrere Fälle verhandelt.

„Wir müssen davon ausgehen, dass die Reise nach Syrien länger geplant war“, sagt Polizeisprecher Bernd Schmidt. Das Mädchen hat eine Einverständniserklärung der Eltern gefälscht, ein Ticket gebucht, Kontakte geknüpft. Wie es zu der Radikalisierung kam, darüber kann man bei der Kriminalpolizei nur rätseln: „Eine Islamistenszene gibt es in Konstanz nicht“, sagt Schmidt. Er vermutet, ebenso wie das Landesamt für Verfassungsschutz, dass Sarah vor allem über das Internet mit Extremisten in Kontakt kam.

Viele Möglichkeiten Sarah zurück nach Deutschland zu holen sieht man in der Konstanzer Behörde derzeit nicht. Von einem europäischen Land könnten die Beamten Amtshilfe erbitten – doch was macht man im Fall eines Staates, der sich gerade in einem Bürgerkrieg selbst zerlegt? Ohnehin hat der „Dschihad-Tourismus“ nach Syrien inzwischen ein Ausmaß angenommen, das immer mehr Staaten beunruhigt. Der UN-Sicherheitsrat hat vor wenigen Wochen eine Resolution verabschiedet, die alle ausländischen Kämpfer auffordert, das Bürgerkriegsland zu verlassen. Doch wer meint, Syrien sei sein letzter Halt auf dem Weg ins Paradies, der lässt sich auch von Resolutionen nicht aufhalten. Und schon gar nicht von der Konstanzer Polizei.