Teststation und Testlabor sind noch nicht einsatzbereit, da bildet sich am Donnerstagnachmittag quer über dem Tübinger Marktplatz schon eine lange Warteschlange vor dem DRK-Pavillon.
Jung und Alt stehen da, die Menschen halten Abstand, tragen Maske und warten geduldig in der Kälte, bis sie an der Reihe sind.
Ganz vorne zwei junge Männer aus Pfullingen, Leon Müller und Tim Ludwig, die eine Kontaktwarnung von ihrer Corona-App bekamen.

Kostenlos können sie hier in Tübingen einen Corona-Schnelltest machen. Personalien angeben, Abstrich aus der Nasenschleimhaut nehmen lassen, auf das Ergebnis warten – und 15 Minuten später ist der Befund da.
„Drei oder vier Tests von Hundert sind positiv“
Ein zweiter Strich auf dem Teststreifen signalisiert: Hier ist jemand infiziert.

Wer positiv getestet wird, dessen Daten gehen sofort ans Gesundheitsamt, die Betroffenen werden vor Ort über die Folgen aufgeklärt und nach Hause geschickt.
„Drei oder vier Tests von Hundert sind positiv“, sagt Christa Lucke, eine frühere Pflegedienstleiterin, die ehrenamtlich im Einsatz ist und gemeinsam mit Monika Lutz-Lais ebenfalls Pflegerin und ehrenamtliche Helferin, unter strengen Hygienemaßnahmen die Abstriche vornimmt.

„Die Menschen sind dann nicht entsetzt, sondern eher verblüfft und fragen sich, wo sie das Virus herhaben könnten“, berichten die beiden Helferinnen von den Reaktionen. „Die meisten sind aber einfach nur erleichtert“, sagt Lucke.
Wer steckt hinter dem Konzept?
Für zwei Stunden ist die Teststation hier direkt vor dem Tübinger Rathaus aufgebaut, etwa 100 Menschen können in dieser Zeit getestet werden.
Das Konzept hat einen Namen – aber der lautet nicht Boris Palmer. Im April-Lockdown noch hatte der Tübinger Oberbürgermeister noch bundesweit für einen Aufschrei der Empörung gesorgt mit seiner Aussage, der Lockdown rette zu enormen gesellschaftlichen Folgen möglicherweise Menschen, die aufgrund ihres Alters oder Krankheiten in einem halben Jahr sowieso tot wären.
Palmer entschuldigte sich später, ein Missverständnis, stellte er klar. Statt Wirtschaft und Kultur lahmzulegen, wollte er eigentlich die Älteren speziell schützen – und setzte es daraufhin in Tübingen um.
Das Konzept dazu kam im Wesentlichen von Lisa Federle. Die 59-jährige Notärztin und Tübinger DRK-Präsidentin, erst jüngst für ihre mobile Arztpraxis für Geflüchtete mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt, ist Motor, Kopf und Seele des kleinen Tübinger Corona-Wunders, über das jetzt bundesweit berichtet wird.

Auch an diesem Donnerstag sind zwei TV-Teams da. Denn anders als im ganzen Land gab es zuletzt in Tübingen wenig Infektionen bei über 60-Jährigen, seit Mai keinen größeren Ausbruch in Alten- und Pflegeheimen. OB Palmer ließ jüngst die Statistiken für die Stadt auswerten – über einen Zeitraum von zwei Wochen hinweg habe es Ende November dort keinen Infizierten über 75 Jahre gegeben, sagt Palmer.
Federles Engagement
„Der Landkreis Tübingen gehörte im April zu den ersten in Deutschland, die in Alten- und Pflegeheimen auf Anregung von Lisa Federle Corona-Tests durchgeführt haben“, sagt auch der Tübinger Landrat Jürgen Walter. „Von ihr kam der Anstoß, die vulnerablen Gruppen zu schützen. Wir haben auch als Landkreis eine Notreserve von 40.000 Schnelltests gekauft, die wir bei Bedarf an Einrichtungen weitergeben können.“
Federle, so Walter, habe das Testmobil auf die Beine gestellt, flächendeckende Testungen angeregt. „Und sie war es auch, die die Schnelltests für Seniorenheime und Familien durchgesetzt hat, die Weihnachten miteinander feiern wollen.“
In der Stadt Tübingen rannte Federle damit bei Boris Palmer offene Türen ein. Seit Mai gibt es in Tübingen ein spezielles Schutzprogramm für Senioren. Dazu gehören ein Senioren-Einkaufsfenster am Vormittag, kostenlose FFP2-Masken von der Stadt und günstige Einzelfahrten im Sammeltaxi über über 65-Jährige.
Kostenlose Schnelltests in Heimen
10.000 dieser Fahrten wurden schon abgerechnet. Die Stadtkasse gibt vorerst eine Viertelmillion Euro dazu. „Von einem Wunder würde ich nicht sprechen, nichts davon ist Hexenwerk“, sagt Boris Palmer.
Seit September gibt es nun kostenlose Schnelltests in Heimen für Personal und Bewohner, seit Oktober für die Besucher, und seit drei Wochen ist jetzt das Testmobil im Einsatz. „Ich finde das richtig gut“, sagt Passantin Irmtraut Hermann, 87 Jahre alt. „Die Stadt tut viel, das Konzept ist toll.“

Fünf Tage die Woche, nicht nur in Tübingen, sondern auch in Rottenburg und Mössingen. Rund 1500 Schnelltests haben die Ehrenamtlichen und Helfer damit schon durchgeführt, finanziert durch DRK und Spenden. Federle trommelt seit Monaten auf vielen Ebenen um Unterstützung. „Das ist ein Verdienst von uns allen, die ganze Stadtgesellschaft hilft zusammen“, sagt Federle.

So hat Hans-Peter Schwarz, Geschäftsführer der Tübingen Erleben GmbH, gemeinsam mit einer örtlichen Bäckerei und Helfern einen Lebkuchen-Verkauf zugunsten der Schnelltests gestartet. „Lisa hat mich angerufen und gefragt“, sagt er zu seinem Engagement.
Prominente Unterstützung
Mit dem Musiker Dieter Thomas Kuhn, früher als „singende Föhnwelle“ in der Schlagerwelt bekannt, ist an diesem Donnerstag auch ein Promi unter den Helfern. Heute kommt Kuhn mit Jeans, Outdoorjacke und Mähne daher und hilft, wie fast immer, beim Auf- und Abbau. Er ist eng mit Federle befreundet. Das Plakat für die Spendenaktion gestaltete er mit seinem Bandmitglied und Grafiker Philipp Feldtkeller.

Und auch viele andere helfen tatkräftig mit. Im Testmobil nimmt Christin Gambinger, Vorsitzende des Kreisjugendrates, die Proben im Empfang und führt die Labortests durch – unter strengen Schutzmaßnahmen, ehrenamtlich wie alle Helfer hier und mit „open end“, wie sie sagt.
„Das ist so eine simple Aktion mit den Schnelltests“, sagt sie, „das kann man doch überall machen und wir ziehen die Infizierten hier heraus. Die stecken niemanden mehr an. Ich verstehe nicht, warum es das nicht längst anderswo auch gibt.“

Hätte ein landesweites – oder gar bundesweites Schutzkonzept nach dem Tübinger Muster dazu beitragen können, die aktuelle dramatische Infektionslage zu verhindern?
„Beweisen kann man das nicht. Wir haben hier in Tübingen schon günstige Voraussetzungen. Aber es spricht einiges dafür“, sagt Boris Palmer. „Ich bin fest davon überzeugt, dass wir bei der Bekämpfung der Pandemie schwere strategische Fehler gemacht haben.“
Es zeige sich, so Palmer, dass der Schutz der hochgradig gefährdeten Älteren mit speziellen Maßnahmen hätte gelingen können. „Aber jetzt kann ich mir keinen Weg mehr denken, der um einen erneuten Lockdown herumführt.“