Der große Coup soll zwei Tage vor Weihnachten über die Bühne gehen. Drei einschlägig vorbestrafte Männer vom Balkan haben einen Plan und zwei Helfer vor Ort: Rein in die Schweiz, einen Geldautomaten sprengen und möglichst schnell wieder raus. Das geht aus Ermittlungsakten hervor, die der Tages-Anzeiger einsehen konnte.

Am 13. Dezember 2022 fährt ein 20-jähriger Schweizer mit dem Auto zum Flughafen Memmingen, um dort einen 38-jährigen Bosnier abzuholen. Der Gast sorgte in seiner Heimat für Schlagzeilen, weil er 2012 seine Lebensgefährtin erschossen hatte – in Anwesenheit des einmonatigen Babys. Dafür bestrafte ihn ein bosnisches Gericht mit mehr als zehn Jahren Gefängnis.

Ex-Polizeichef wegen drei Raubüberfällen verurteilt

Der 20-Jährige bringt den Bosnier vom Flughafen Memmingen zum zweiten Helfer, der in einem schweizerisch-österreichischen Grenzort nahe des Bodensees wohnt. Ein weiterer Bosnier reist selbst mit dem Auto in die Schweiz. Auch er ist kein unbeschriebenes Blatt: Der 59-jährige Ex-Polizeichef wurde wegen dreier bewaffneter Raubüberfälle in Bosnien zu mehr als sieben Jahren hinter Gittern verurteilt.

Der Dritte im Bunde, ein 38-jähriger Serbe, dürfte sich genau genommen gar nicht in der Schweiz aufhalten. Denn ein Zürcher Gericht hat ihn wegen mehrfachen Raubes zu sechs Jahren Gefängnis und zehn Jahren Landesverweisung verurteilt. Er ist erst seit einigen Monaten wieder in Freiheit.

Sprengstoff, Sturmmasken und Einbruchswerkzeug

Zwei Tage nach der Abholung am Flughafen Memmingen fährt der 20-jährige Schweizer kurz vor Mitternacht nach Jestetten. Dort sind auf einem Parkplatz vier gestohlene Auto-Nummernschilder mit den Abkürzungen für Berlin und Waldshut in einem Plastiksack deponiert. Wer sie entwendet hat, ist nicht bekannt. Der 20-Jährige bringt die Nummernschilder in seine Wohnung nahe dem Flughafen Zürich.

Dort treffen sich die vier Männer am 22. Dezember 2022 um 1 Uhr nachts. Sie laden Sprengstoff, Elektrokabel, Sturmmasken und Einbruchswerkzeug in einen Audi A6. Statt den Zürcher Kennzeichen bringen sie am Wagen die zwei Waldshuter an.

165.000 Franken und 9000 Euro

Eine halbe Stunde später fahren die drei vorbestraften Männer im Audi A6 nach Hettlingen, einem Vorort von Winterthur. Hinter ihnen folgt der 20-jährige Schweizer in einem Audi A4. Er soll für das Trio als Fluchthelfer bereitstehen.

Im Hettlinger Dorfzentrum steuern die Männer einen weißen Container neben einem kleinen Supermarkt. Darin eingebaut: ein Geldautomat der Zürcher Kantonalbank, den die Männer zuvor mehrfach ausgekundschaftet haben. Er ist mit 165.000 Franken und 9000 Euro gefüllt.

Mit einem Schraubenzieher hebeln sie das Fach für die Geldausgabe auf und legen ein Rohr mit Sprengstoff und einen elektrischen Fernzünder hinein. An der Sicherheitstür des Containers bringen sie eine weitere Sprengladung an.

Anwohnerin: „Es hat grauenhaft geknallt“

Gegen 3.55 Uhr kommt es in Hettlingen zur Explosion. „Wir sind erschrocken und waren sofort wach, es hat grauenhaft geknallt“, sagt eine Anwohnerin. Doch den Männern gelingt es nicht, sich Zugang zur Geldkassette zu verschaffen. Der Sprengstoff im Geldausgabefach zündet nicht vollständig, und jener an der Tür ist zu schwach. Trotzdem entsteht ein Sachschaden von 40.000 Franken.

Ohne Beute rasen die Täter an einen abgelegenen Parkplatz, wo sie den Audi A6 zurücklassen und sich dort aufteilen. Der 38-jährige Bosnier wird um 4.05 Uhr vom 20-jährigen Schweizer abgeholt. Dieser bringt ihn in die Wohnung nahe dem Flughafen Zürich und sucht für ihn die nächste Zugverbindung heraus, um an die österreichische Grenze zu fahren.

Die anderen zwei Täter, der 38-jährige Serbe und der 59-jährige Ex-Polizeichef aus Bosnien, flüchten zunächst zu Fuß in den Wald und rufen von dort mehrmals den Fluchthelfer an. Um 5.40 Uhr nimmt dieser den Wagen seiner Schwester und holt das Duo ab. Ein über der Region kreisender Polizeihubschrauber kann die Flüchtigen nicht lokalisieren.

Kurz vor 7 Uhr treffen die Männer in der Wohnung nahe dem Flughafen ein. Dort versteckt der 20-jährige Fluchthelfer die Tatkleidung in einer Garage zwischen Reifen. Den Sprengstoff und die Kabel verstaut er in einem gelben Sack im Lüftungsschacht.

Rucksack mit Waffen und Kokain

Wenige Stunden nach der Geldautomatensprengung kommen die Ermittlerinnen der Kantonspolizei dem Fluchthelfer auf die Spur. Der 20-Jährige wird um 11.15 Uhr verhaftet. Zweieinhalb Stunden durchsuchen Polizisten seine Wohnung und finden Tatkleider und Sprengstoff. Er bleibt für ein halbes Jahr in Untersuchungshaft.

Doch der 20-Jährige ist nicht der Einzige, der dem Trio bei der Flucht hilft. Ein 40-jähriger Schweizer lässt den 38-jährigen Serben in seiner Wohnung an der österreichischen Grenze übernachten. Am nächsten Tag fährt er ihn mit dem Auto nach Wien.

Zudem versteckt der Fluchthelfer einen mit zwei Pistolen und 30 Gramm Kokain gefüllten Rucksack, der einem der drei Männern gehören soll. Bei einer Pistole ist die Waffennummer ausgeschliffen, um ihre Herkunft nicht zurückverfolgen zu können.

Nach sechs Wochen kommen die Ermittler dem zweiten Fluchthelfer auf die Spur. Die Kantonspolizei St. Gallen verhaftet den 40-Jährigen, lässt ihn aber bereits am nächsten Tag wieder laufen.

In der gleichen Woche wird der 38-jährige Serbe aufgrund eines internationalen Haftbefehls festgenommen, als er von seiner Heimat nach Kroatien einreist. Er wird 2023 in die Schweiz ausgeliefert und am Flughafen Zürich von der Bundeskriminalpolizei verhaftet.

Urteile gegen drei Beschuldigte

Nun hat das Schweizer Bundesstrafgericht in Bellinzona drei der fünf Beschuldigten verurteilt. Der 38-jährige Serbe erhielt unter anderem wegen Gefährdung durch Sprengstoffe in verbrecherischer Absicht eine Gefängnisstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten. Danach darf er 20 Jahre lang nicht in die Schweiz einreisen.

Der 20-jährige Fluchthelfer wurde wegen Gehilfenschaft zu einer Bewährungsstrafe von 22 Monaten und einer bedingten Geldstrafe von 150 Tagessätzen à 60 Franken verurteilt.

Der zweite Fluchthelfer erhielt unter anderem wegen mehrfacher Begünstigung eine bedingte Geldstrafe von 180 Tagessätzen à 30 Franken. Zudem müssen die drei Beschuldigten 65.000 Franken Verfahrenskosten bezahlen.

Zwei Verteidiger und die Bundesanwaltschaft erklären auf Anfrage, die Urteile akzeptieren zu wollen und keine Berufung einzulegen. Einer der Anwälte sagt: „Die Hintermänner der Tat waren beim Prozess nicht anwesend.“

Ob damit die zwei weiteren Beschuldigten, der bosnische Ex-Polizeichef und der verurteilte Mörder, gemeint sind, ist unklar. Von ihnen fehlt trotz internationaler Fahndung jede Spur.