James Francis Byrnes wurde 1882 im US-Bundesstaat South Carolina geboren und hatte mit Baden-Württemberg ziemlich wenig am Hut. Und doch traf er eine Aussage über die Region, die so weitsichtig war, dass sie bis heute gilt.

Byrnes, von 1945 bis 1947 Außenminister der Vereinigten Staaten, schrieb im Juli 1946 dem französischen Botschafter in Washington, Henri Bonnet, einen Brief. Er kritisierte darin das Vorgehen der Franzosen in ihrer Besatzungszone in Deutschland. Einer der Hauptpunkte: „Die Zerstörung und der Abtransport von Eisenbahnstrecken in der französischen Besatzungszone gefährden die Leistungsfähigkeit des europäischen Transports.“

James F. Byrnes
James F. Byrnes | Bild: Harris & Ewing, gemeinfrei

Gemeint, wenn auch nicht explizit angesprochen, waren damit mindestens zwei Strecken: Die Bahnstrecke zwischen Freiburg und Offenburg sowie die Gäubahn zwischen Tuttlingen und Horb. Genau diese zwei Nord-Süd-Hauptrouten demontierten die Franzosen im großen Stil, entfernten im Rheintal das zweite Gleis auf rund 60 Kilometern und in ähnlicher Länge auf der Gäubahn.

Und genau da fehlt es bekanntlich auch heute, 80 Jahre später, noch – der Transport zwischen den Metropolen Zürich und Stuttgart findet tatsächlich auf einer in großen Teilen wenig leistungsfähigen, eingleisigen Provinzbahn statt.

Byrnes‘ Kritik blieb damals nicht unerwidert. „Diese Materialentnahmen dienen der Wiederherstellung des französischen Eisenbahnnetzes, das durch deutsche Beschlagnahmungen und Zerstörungen schwere Verluste erlitten hat“, antwortet ihm Botschafter Bonnet einen Monat später. Der Überlieferung nach bauten die Franzosen die Gäubahngleise zwischen Besançon und Belfort ein – wo 1940 die Deutschen ein Gleis demontiert hatten, um es für den Vernichtungskrieg im Osten zu verwenden.

Der damalige Botschafter Frankreichs in den USA, Henri Bonnet.
Der damalige Botschafter Frankreichs in den USA, Henri Bonnet. | Bild: Abbie Rowe/gemeinfrei

Und, so Bonnet, die Schweizer hätten bereits signalisiert, dass dieser Schritt internationale Beziehungen nicht gefährde. Gleichzeitig hat die Nähe zur Schweiz aber wohl doch eine Rolle gespielt – und der Region zumindest teilweise die Zweigleisigkeit erhalten. Bonnet betont in seinem Schreiben, zwischen Singen und der Schweizer Grenze werde kein Abbau des zweiten Gleises stattfinden, ebenso zwischen Freiburg und Basel.

Und, was öffentlich kaum bekannt ist, es ging sogar um noch mehr Strecken. So findet sich im Hauptstaatsarchiv Stuttgart ein Schreiben, das der Ministerpräsident Württemberg-Badens, Reinhold Maier (FDP/DVP), im Frühjahr 1946 unterschrieben hat und sich an den Länderrat der amerikanischen Besatzungszone in Stuttgart wendet. In diesem Gremium koordinierten sich die Ministerpräsidenten der amerikanisch besetzten deutschen Länder. Württemberg-Baden umfasste grob gesagt alles auf und nördlich der Linie Karlsruhe-Böblingen-Ulm, diesen Teil des späteren Baden-Württembergs hatten die Amerikaner besetzt.

Reinhold Maier war 1946 Ministerpräsident von Württemberg-Baden. 1952 wurde er zum ersten Ministerpräsidenten des neu gegründeten ...
Reinhold Maier war 1946 Ministerpräsident von Württemberg-Baden. 1952 wurde er zum ersten Ministerpräsidenten des neu gegründeten Bundeslandes Baden-Württemberg gewählt. | Bild: Landesarchiv Baden-Württemberg, Fotograf: Willy Pragher

Hier sind neben dem als „bereits entschieden“ bezeichneten Abbau bei Tuttlingen und Offenburg zwei weitere genannt, auf denen die Franzosen eine Mitnahme des zweiten Gleises planten. Erwähnt ist ein kurzer Abschnitt bei Lindau und eine weitere grenznahe, vielen Menschen gut vertraute Strecke: Die Verbindung Radolfzell-Konstanz.

Es könnte durchaus ein amerikanischer Verdienst sein, dass diese Linien zweigleisig blieben. Denn in der dokumentierten Korrespondenz verhandeln verschiedene Verantwortungsträger aus dem Südwesten, etwa auch der Oberbürgermeister von Karlsruhe und Verantwortliche der Reichsbahn, darüber, ob man denn nicht die Amerikaner einschalten könnte, um weiteren Abbau zu verhindern – wobei man sich unsicher war, wie die Amerikaner darauf reagieren würden.

Amerikaner verstehen Bedenken im Südwesten

Ein Antrag Württemberg-Badens zielt dann auch explizit darauf ab. In der Länderratssitzung im Juni erklärt Ministerpräsident Maier dazu: Sein Land würde durch den Abbau „schwer geschädigt“, die Verbindung Stuttgart-Zürich „einen schweren Rückschlag erleiden.“ Der Antrag, die Amerikaner einzuschalten, wird angenommen. Im baden-württembergischen Staatsarchiv hinterlegt ist auch die Antwort der amerikanischen Militärregierung, die sehr positiv ausfällt. Man habe „volles Verständnis“ für die aufgezeigten Auswirkungen. „Maßnahmen zur Verhinderung einer Einschränkungen“ auf den benannten Strecken würden ergriffen.

Dazu wollte man sich im Juli 1946 mit Vertretern der französischen Zone treffen. Ob auch der Brief von Außenminister Byrnes eine Folge dieser Initiative war, ist nicht überliefert, wegen des direkten zeitlichen Zusammenhangs aber zumindest vorstellbar. Zum Abbau der Strecke Radolfzell-Konstanz sollte es dann jedenfalls tatsächlich nie kommen.

Was wollte Frankreich?

Bei alledem steht auch eine Frage im Raum: War der französische Eifer nur so groß, um das eigene Netz zu reparieren? Oder wollten sie schlichtweg verhindern, dass ihr Nachbar Deutschland, der sie erst sechs Jahre zuvor überfallen hatte, allzu schnell wieder angriffsfähig wird?

Auf diese These machte neulich ein SÜDKURIER-Leser die Redaktion aufmerksam – ein Geschichtslehrer habe ihm einmal gesagt, die Franzosen hätten den Wiedereinbau des zweiten Gleises noch länger zu verhindern versucht, damit hier Deutschland im Konfliktfall keine leistungsfähige Infrastruktur in relativer Grenznähe zur Verfügung stünde.

Für diese These finden sich in öffentlich einsehbaren Archiven zwar keine Belege. Jedoch machen auch die betroffenen Politiker in Württemberg-Baden 1946 bereits auf die Folgen aufmerksam. Durch den französischen Abbau auf den angesprochenen Routen „werden sämtlich rechtsrheinische Strecken derart geschwächt, dass der Durchgangsverkehr auf das linksrheinische Ufer, d.h. durch das Elsass, abgedrängt wird.“

Franzosen hatten Sorgen vor starker deutscher Eisenbahn

Und: Dass die Franzosen vor einem starken deutschen Eisenbahnnetz durchaus Sorge hatten, ist historisch verbrieft. Als die Alliierten im September 1945 über die Errichtung eines zentralen deutschen Transportdepartements unter alliierter Kontrolle berieten, waren sich die Sowjets, die Amerikaner und die Briten einig.

Nur die Franzosen legten Einspruch ein: „Die Wiederherstellung eines einheitlichen deutschen Eisenbahnsystems würde tendenziell das Kriegspotential wiederbeleben“, heißt es in einer in US-Dokumenten festgehaltenen Anmerkung der französischen Delegation. Diese wollte lediglich vier unabhängige Eisenbahnnetze in den einzelnen Besatzungszonen.

Auch die Wehrmacht demolierte die Gäubahn, die Franzosen halfen bei der Schwarzwaldbahn

Als Raubritter des badischen und württembergischen Eisenbahnnetzes darf man sich die Franzosen dennoch nicht vorstellen, teilweise ganz im Gegenteil. So berichtet etwa der SÜDKURIER im August 1946, dass die Zweigleisigkeit der Schwarzwaldbahn bei Triberg wieder hergestellt sei – auch dank französischer Pioniergruppen, die hier beim Aufräumen geholfen hatten.

Wehrmachtssoldaten hatten 1945 auf dem Rückzug durch eine Sprengung den Triberger Kehrtunnel zerstört. Auch Neckarbrücken der Gäubahn hatten die Deutschen beim Rückzug selbst gesprengt.

Die von der Wehrmacht gesprengte Neckarbrücke in Horb. Auf dem Bild vom Mai 1946 ist rechts die Behelfsbrücke zu sehen, die die ...
Die von der Wehrmacht gesprengte Neckarbrücke in Horb. Auf dem Bild vom Mai 1946 ist rechts die Behelfsbrücke zu sehen, die die Neckarquerung wieder ermöglichte. Ein richtiger Neubau erfolgte erst 1959. | Bild: RBD Karlsruhe/Landesarchiv BW/Staatsarchiv Ludwigsburg - CC-BY 4.0

Das Gäubahn-Problem ist also trotz aller französischen Demontagen ein hausgemachtes deutsches. Und dass ein wirtschaftlich längst wieder erstarktes Deutschland es auch mehr als 80 Jahre nach dem Krieg immer noch nicht geschafft hat, ein zweites Gleis zu legen – das hätte sich wohl nicht mal Visionär Byrnes vorstellen können.