Torsten Schöll und Alexander Michel

Es ist einer dieser Wintertage am Bodensee, an denen das Sichtbare und das Unsichtbare nah beieinander liegen. Nebel, so dicht, als ob man mit dem Messer Stücke aus der Luft schneiden könnte. Es ist still über dem See am Morgen des 12. Februar 1864. Die Wasseroberfläche glatt wie ein Fisch.

Nebelausguck am Bug

Die „Jura“, ein 46 Meter langes, früher schweizerisches, inzwischen bayerisches Dampfschiff, ist an diesem Freitagvormittag mit Besatzung und fünf Passagieren auf der Kurslinie von Romanshorn nach Konstanz unterwegs. Martin Motz ist der Kapitän und ein umsichtiger Mann. Er hat vorsichtshalber einen Matrosen als Nebelausguck am Bug abgestellt. Motz weiß, dass irgendwo da draußen Kapitän Blumer und seine „Stadt Zürich“, 300 PS-stark und der größte und schnellste Glattdeckdampfer auf dem See, in Gegenrichtung unterwegs ist. Wegen der schlechten Sicht, werden auf beiden Schiffen ständig die Schiffsglocken geläutet.

Doch das hilft an diesem nebelsatten Tag nicht viel. Als sich die beiden dunklen Silhouetten plötzlich vor der weißen Nebelwand abzeichnen, versuchen die Kapitäne im letzten Moment ein Ausweichmanöver. Aber es ist zu spät. Die „Stadt Zürich“, die bis zu zwölf Knoten fahren kann, ist trotz volle Kraft zurück zu schnell. Der Bugspriet des Schweizer Dampfschiffs bohrt sich ins Vorschiff der „Jura“ und reißt deren Rumpf auf.

Die "Jura" sinkt binnen Minuten

Der Matrose am Ausguck wird, so spätere Zeitungsberichte, zerquetscht, einem Schiffsjungen angeblich der Arm abgerissen. Es dauert nur Minuten, bis die „Jura“ zu sinken beginnt, kurz nur festgehalten vom verkeilten Bug der „Zürich“, über den sich die Passagiere und Besatzungsmitglieder der „Jura“ im letzten Moment auf das Schweizer Schiff retten können.

30 Zentner Seide verloren

„Eine größere, zum Teil sehr wertvolle Ladung, namentlich gegen 30 Zentner Seide, ging verloren und wird wohl nur zum Theil wieder gerettet werden können. Die Seide und Baumwollen waren um 40 000 Franken versichert", schreibt die "Züricherische Freitagszeitung" am 19. Februar 1864 und fährt fort: "Ein Kornhändler hatte seinen Geldsack mit 3000 Franken auf dem Tisch der Kajüte liegen lassen müssen, um sein Leben zu retten.“ Wenige Tage später vermeldet der „Bayerische Kurier“, dass es gelungen sei, die Stelle ausfindig zu machen, an der das Schiff im See versank: „Es liegt in einer Tiefe von 143 Fuß, und genau in dem von ihm einzuhaltenden Curse.“

Der Bug des Dampfers „Jura“ im Bodensee
Der Bug des Dampfers „Jura“ im Bodensee | Bild: GUE Switzerland, Amt für Archäologie Thurgau

Das Wrack des Schaufelraddampfers befindet sich noch heute genau dort, rund ein Kilometer vor Bottighofen, knapp 40 Meter unter der Wasseroberfläche. Es ist überraschend gut erhalten. Mit entsprechender Scheinwerfer-Ausrüstung ist für Taucher, die den Abstieg in die ansonsten stockdunkle Tiefe wagen, gut zu erkennen, dass an der Steuerbordseite die Schiffswand von der Wucht des Aufpralls zerstört ist. Seit die "Jura" 1976 wiederentdeckt wurde, ist sie nicht nur das wahrscheinlich berühmteste Wrack im Bodensee, sondern auch das gefährlichste: für jeden, der den Tauchgang im eisigen Wasser unterschätzt. Allein seit 2005 sind mindestens fünf Taucher bei ihren Erkundungen am Wrack ums Leben gekommen. Der letzte im vergangenen Jahr.

Rekord im Schiffe versenken

Und irgendwie sind diese verunglückten Taucher damit auch die letzten Opfer der „Zürich“, einem Schiff, das einst am Bodensee einen Ruf wie Donnerhall hatte: Denn spätestens seit dem Untergang der „Jura“ galt die „Stadt Zürich“ im Volksmund als „Teufelsschiff“. Ein nach dem Zusammenstoß kursierendes Bonmot bescheinigte dem Dampfer, mehr deutsche Schiffe versenkt zu haben als die dänische Flotte. Zu jener Zeit befand sich Preußen gerade mit Dänemark im Krieg.

Kollision mit der "Ludwig"

Schon drei Jahre vor der Karambolage hatte die „Stadt Zürich“ ein bayerisches Dampfschiff im Bodensee versenkt. Damals mit weit gravierenderen Folgen: In einem orkanartigen Wintersturm war es am 11. März 1861 vor der alten Rheinmündung zu einer folgenschweren Kollision mit dem Dampfschiff „Ludwig“ gekommen. Dessen Kapitän Gerber hatte die Fahrt von Lindau nach Rorschach aufgrund des hohen Wellengangs abgesagt. Doch um 5 Uhr nachmittags musste er sich bei abflauendem Wind doch durchgerungen haben, die Überfahrt zu wagen. Vermutlich unter Druck einiger Allgäuer Viehhändler, die unbedingt noch in die Schweiz hinüberwollten, um in St. Gallen ihr Geschäft zu machen.

Auch Vieh war an Bord

So waren an diesem Tag neben den Passagieren und der schweizerischen Mannschaft an Bord der „Ludwig“ auch mehrere Stück Vieh sowie ein Fuhrwerk. Mitten auf dem See hatte der Sturm an Kraft zugelegt. Es dunkelte, die Sicht war miserabel und Kapitän Gerber hielt den Kurs mit dem Kompass. Plötzlich meldete der Schiffsjunge am Bugausguck ein Licht voraus, das sich rasch zu nähern schien. Gleichzeitig entdeckte der Steuermann der „Zürich“, die von Romanshorn nach Lindau unterwegs war, einen Lichtschein über dem Wasser . . .

Sturm wird zum Orkan

Was dann geschah, als die „Ludwig“ die „Stelle am alten Rhein“ erreichte, beschreibt die „Tiroler Schützen-Zeitung“ am 15. März 1861: „Hier aber steigerte sich der Sturm bis zu einem von Schneewehen begleiteten Orkan, und die eingetretene Dunkelheit verhinderte obendrein die Aussicht des Steuermanns und der Schiffsleute, mit welchen sich sämtliche Reisende auf dem Verdeck befanden, als das große schweizerische Dampfschiff „Zürich“ in voller Fahrt auf die Seitenwand der „Ludwig“ aufstieß. Der Stoß war so furchtbar, dass die „Ludwig“ fast augenblicklich sank.“

13 Tote auf dem See

Obwohl die Mannschaft der „Stadt Zürich“, die zunächst damit beschäftigt waren, eigene Lecks abzudichten, das andere Schiff kurz noch sahen, war es plötzlich wie vom See verschluckt. Nur der Kapitän, der Steuermann und Matrose der „Ludwig“ hatten in ein Rettungsboot springen können und erreichten nach fünf Stunden Irrfahrt das rettende Ufer. Zeitgenössische Berichte sprechen von 13 Todesopfern, spätere Quellen von 14.

Schlagzeilen machte das in nicht einmal 20 Metern Tiefe liegende Schiff noch einmal, als es 1863 dem bayerischen Marineingenieur Wilhelm Bauer gelang, das Wrack in einer damals hochmodernen Aktion mit Hilfe von Ballons zu heben. Das Schiff wurde wieder flottgemacht und diente bald unter dem Namen „Rorschach“ als Lastkahn. 1871 geriet es vor Lochau bei Bregenz erneut in einen Sturm und ging als „das Schiff, das zwei Mal sank“ in die Bodenseeschifffahrts-Geschichte ein.

Die „Zürich“, die 1860 vor Friedrichshafen schon die „Königin von Württemberg“ beschädigt hatte, rammte später noch zwei weitere Schiffe auf dem See. 1919, vor genau 100 Jahren, wurde das „Teufelsschiff“ im Hafen von Romanshorn verschrottet.

Was ein Bodensee-Kapitän sagt

Heute stellt sich die Frage, warum mit der "Stadt Zürich" so viele Unfälle passieren konnten. War ihre Besatzung sorglos und ungeeignet? Das dienst kaum für eine Erklärung. "Mit 300 PS war die 'Stadt Zürich' außergewöhnlich stark motorisiert", sagt Frank Weber, Geschäftsführer der Bodensee-Schiffsbetriebe (BSB) und früher selbst Kapitän. Andere Dampfschiffe waren mit etwa 150 bis 200 PS deutlich schwächer motorisiert. Weber hält es für möglich, dass die hohe Leistung der Maschine und die damit verbundene hohe Geschwindigkeit der "Stadt Zürich" für die Unfälle mit verantwortlich gewesen sind. "Vermutlich war die Ruderanlage nicht für dieses Tempo ausgelegt, und es dauerte bei Kollisionsgefahr länger, bis die Maschine gestoppt war und die Schaufelräder in die entgegengesetzte Richtung liefen", erklärt Weber. In dieser Zeit behielt das Schiff die ursprüngliche Richtung bei.

Eine zweite "Stadt Zürich"

Der schlechte Namen des "Teufelsschiffs" hielt die Schweizer aber nicht davon ab, in zweites Schiff mit Namen "Stadt Zürich" zu bauen und ab 1909 auf dem Zürichsee einzusetzen. Dort fährt das Salonschiff noch heute als Attraktion.

1909 wurde ein zweiter Dampfer mit Namen „Stadt Zürich“ gebaut. Er fährt – auch heute noch – aber nicht auf dem Bodensee, sondern auf ...
1909 wurde ein zweiter Dampfer mit Namen „Stadt Zürich“ gebaut. Er fährt – auch heute noch – aber nicht auf dem Bodensee, sondern auf dem Zürichsee. Auch dieses Schiff rammte ein anderes und versenkte es auf den Seegrund: ein Polizeiboot. | Bild: ZSG Zürichsee Schifffahrtsgesellschaft

Wie beim Namensvorgänger kam es auch mit diesem Schiff zu einem Unfall: 1949 versenkte der Salondampfer unabsichtlich ein Fahrzeug, das wegen Maschinenschadens nicht ausweichen konnte. Es war ausgerechnet ein Polizeiboot.