Die Ersten kamen im März 2015 – das sogenannte „Sonderkontingent für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak“ war auf Initiative von Ministerpräsident Winfried Kretschmann beschlossen worden. Zu den Neuankömmlingen gehörte auch Nadia Murad. Psychologe Jan Kizilhan war es, der sie in einem Flüchtlingslager fand und für das Programm auswählte. „Sie saß in einem Zelt, in dem nichts außer ein paar Decken lagen, völlig zusammengekrümmt“, erinnert sich Kizilhan. Heute hat sich nicht nur Murad gefangen, sie ist verlobt, möchte heiraten und Kinder bekommen. Auch die anderen Frauen und Kinder, die in 21 verschiedenen Gemeinden verteilt wurden, seien gut integriert, sagt Kizilhan im Gespräch mit dem SÜDKURIER.

Trotzdem holt die Vergangenheit die Frauen wieder ein

Dennoch gebe es immer wieder Rückfälle. Besonders, wenn sie wie vor Kurzem Nachrichten erreichen, dass die Terrormiliz IS wieder ein Dorf überfallen und mehrere Menschen ermordet hat. Denn der Terror ist noch längst nicht vorbei. Für einige der Frauen sei das eine „erhebliche Belastung“, betont Kizilhan. Sie brechen zusammen, weil die Bilder aus der Heimat sie an ihre eigenen Traumata erinnern. Manche bekommen Albträume, andere erleiden Krampfanfälle, weil die Psyche mit dem neuen Schock überfordert ist. Etwa 20 Prozent der Frauen leiden nach Angaben des Psychologen unter diesen Belastungsstörungen.

Es gibt kein Zurück

Die Dörfer und Städte in ihrer Heimat sind nach wie vor völlig zerstört“, macht Kizilhan deutlich: „Sie können nicht zurück.“ Etwa 300 000 Jesiden leben derzeit in Camps im Nordirak. Von dort, wo sie geflüchtet sind, in der Nähe von Mossul, sind nach wie vor viele Milizen aktiv. „Und der Staat ist nicht in der Lage, dort Frieden zu schaffen. Es kann jederzeit wieder passieren, was 2014 passiert ist.“

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Damals, im August 2014, hatte der IS das Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden in Sindschar überfallen und ein grausames Massaker begangen: Mehr als 5000 Männer und Jungen wurden ermordet, mehr als 7000 Frauen und Kinder entführt und über 400 000 aus ihrer Heimat vertrieben. Weitere tausend werden bis heute vermisst. Immer wieder erreichen die Jesidinnen in Baden-Württemberg Nachrichten eines Fundes eines Massengrabs – die Hoffnung, dass ihre Verwandten noch leben, schwindet mit jedem Mal.

Deutschland ist zur Heimat geworden

„Es gibt keine Perspektive für diese Menschen“, schildert Kizilhan die Situation der Jesiden. Deutschland ist für sie zum sicheren Ort geworden – über 90 Prozent von ihnen sehen Baden-Württemberg inzwischen als ihre Heimat. Auch, weil sie die Bundesrepublik als christlich geprägtes Land wahrnehmen: Im Irak gehören Christen zur Minderheit, traditionell stehen sie dort den Jesiden nahe, weil beide vom muslimischen Staat unterdrückt werden.

„Sie wollen nicht zurück“, betont Kizilhan. Die Menschen hätten sich hier gut integriert, die Kinder und Jugendlichen gehen zur Schule und sprechen inzwischen akzentfrei Deutsch. Einige hätten den Hauptschulabschluss in der Tasche, andere machten den Realschulabschluss, weitere besuchten das Gymnasium mit dem Wunsch, zu studieren: „Sie wollen Rechstanwältin oder Ärztin werden“, sagt Kizilhan. Andere seien in der Ausbildung zur Friseurin, arbeiteten im Café oder seien als Reinigungskräfte tätig: „Sie wollen einfach nicht zu Hause bleiben.“ Etwa 20 Frauen hätten hier geheiratet und Kinder bekommen. Sie sind angekommen.

Dem Weg folgen

Das Beispiel Baden-Württemberg machte Schule. Brandenburg überlegt bis zu 200 Jesiden herzuholen, auch Berlin. Die Vereinten Nationen interessieren sich für das Programm des Südwestens. Kizilhan hat die kanadische Regierung beraten, die im vergangenen Jahr 1200 Jesidinnen ins Land holten. Australien, bekannt für seine harte Flüchtlingspolitik, arbeite ebenfalls an einem Aufnahmeprojekt.

Was Kizilhan besonders am Herzen liegt, ist allerdings das Schicksal jener Frauen, die doch zurückgekehrt sind. Mit Kindern, die aus Vergewaltigungen entstanden. Im Irak gilt die Scharia – sie schreibt vor, dass das Kind eines Muslimen automatisch auch Muslim ist, vermerkt wird das sogar im Pass. Für die geschundenen Frauen sei das besonders schwierig, beschreibt Kizilhan. Der Psychologe würde sie gerne aus dem Irak holen. „Alle anderen muss man vor Ort unterstützen“, stellt er klar. „Die Fluchtursachen müssen beseitigt werden. Diese Menschen sollten in ihrer Heimat leben können.“