Seit Ulrike Griesing als junge Frau einen schweren Autounfall hatte, unterscheidet sie zwischen ihrem Geist und ihrem Körper. Sie war gerade 24 Jahre alt und Lehrerin für Werken und Handarbeit an einer Sonderschule. "Ich sah alles von oben und hinter mir war ein wunderbares Licht", erinnert sie sich.

Nichts war mehr so wie zuvor

Sie erlitt eine Hirnquetschung, lag neun Tage im Koma und war halbseitig gelähmt, ähnlich wie nach einem Schlaganfall, konnte nicht mehr richtig sprechen und erinnerte sich nur noch an ihre Kindheit, aber nicht mehr an die acht vergangenen Jahre.

Lehnt eine Organspende in ihrer letztwilligen Verfügung ab: Ulrike Griesing aus Radolfzell.
Lehnt eine Organspende in ihrer letztwilligen Verfügung ab: Ulrike Griesing aus Radolfzell. | Bild: Hofmann, Birgit

Wenn ein Mensch im Koma liege, so glaubt sie, löse sich die Verbindung von Körper und Seele allmählich auf. "Ich habe erlebt, wie sich die Lebenskräfte aus dem Gehirn, vom Denken, Fühlen und Wollen zurückziehen." Und eben diese Lebenskräfte, so glaubt sie, müssten bei der Organentnahme noch da sein, sonst könnte man dem Körper keine lebenden Organe entnehmen: "Die Körper sind bewusstlos, schmerzlos, aber die Seelen?" Der Hirntod ist für sie nicht der richtige Tod.

Trotz allem konnte Ulrike Griesing Psychologie studieren

Sie machte nach dem Unfall ihren Traum wahr und studierte Psychologie, bekam als Behinderte jedoch keine Arbeitsstelle. Sie lebte von Sozialhilfe und begleitete jahrelang Suizidgefährdete, saß als Hospizhelferin in Kliniken und Altenheimen am Bett von Sterbenden. Dort habe sie erlebt, wie durch die künstliche Ernährung und die Aufrechterhaltung des Wasserhaushalts die Seele am Körper gehalten werde. "Damit hindert man die Menschen am Sterben", sagt sie.

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Heute ist sie 69 Jahre alt und lebt seit fast 20 Jahren in Radolfzell. Sie hat einen Schwerbehindertenausweis, ist seit 2010 frühverrentet und hat eine amtliche Betreuerin, die ihr hilft, Bescheide von Ämtern und Behörden zu beantworten. Manchmal macht ihr Gedächtnis nicht mit, oder ihr fallen plötzlich Sachen aus der Hand. Die Folgen ihrer Verletzung von damals. Auch ihr rechtes Augenlid hängt seitdem nach unten.

Ihre Bereitschaft zur Organspende machte sie nach ihrem Unfall rückgängig

Heute hat sie keinen Organspendeausweis mehr. Stattdessen hat sie im Geldbeutel einen Zettel, der überschrieben ist mit "Letztwillige Verfügung": Darauf steht mit Datum und Unterschrift, dass sie eine Organentnahme ablehnt. Zu sehen, wie sich bei ihrem Vater, nach dessen Tod dessen Gesichtszüge veränderten und alle nochmal da waren, als er zu Hause aufgebahrt lag, das sei ein schöner Tod gewesen.

"Die Organspende sollte eine Selbstverständlichkeit sein", sagt Armin Müller aus Walbertsweiler.
"Die Organspende sollte eine Selbstverständlichkeit sein", sagt Armin Müller aus Walbertsweiler. | Bild: Hofmann, Birgit

Armin Müller, 64, hat eine klare Meinung zu den Dingen, die jeder im Leben regeln sollte: "Die Organspende sollte eine Selbstverständlichkeit sein", sagt er. Das hatte er dem SÜDKURIER in einem Leserbrief geschrieben, als Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zusammen mit dem SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach Anfang April die Gesetzesinitiative für eine Widerspruchslösung zur Organspende vorstellte.

Jetzt sitzt er im Wohn-Esszimmer seines Hauses in Walbertsweiler, einem kleinen Ort nicht weit von Pfullendorf, wo er mit seiner Frau wohnt. Früher arbeitete er als Kommunalbeamter und war einige Jahre Bürgermeister von Eigeltingen. An der Wand hängen Familienbilder, darunter auch die seiner Eltern, die beide bereits tot sind.

Die Organspende ist für ihn ein Akt der Nächstenliebe

Deshalb besitzt er seit zehn Jahren einen Ausweis. Er kann diejenigen nicht verstehen, die zwar für die Organspende sind, aber den letzten Schritt nicht gehen und sich einen Ausweis zulegen: "Die gesunden Organe eines toten Menschen", sagt er, "sind unbezahlbar für einen totkranken Menschen, der verzweifelt auf ein Spenderorgan wartet."

Mit zehn Jahren fuhr ihn ein Auto an

Er hat früh erfahren, wie rasch das Leben im Zweifel vorbei sein kann: Als er zehn Jahre alt war, hatte ihn auf dem Schulweg ein Auto angefahren. Der Fahrer war bei Glatteis auf die Gegenfahrbahn geraten und erfasste den Jungen. Mit einem Schädelbasisbruch und einer schweren Knieverletzung lag er drei Monate im Krankenhaus. "Als der Unfall passierte, sah ich ein wunderschönes warmes Licht und sah mich von oben dort liegen", erinnert er sich. Dieses Nahtoderlebnis hat ihn geprägt, sagt er.

Als Sanitäter beim Roten Kreuz hat er erlebt, dass Menschen, die er zuvor aus ihrem Auto geborgen hatte, nicht überlebten. Und vor Jahren wäre er selbst fast an einer beidseitigen Lungenembolie gestorben. "Der Arzt sagte, ich hätte eine ganze Armee Schutzengel gehabt", sagt er. Dieses Erlebnis hat ihn in seinem Entschluss bestärkt, seine Organe nach seinem Tod zu spenden.

Auch seine Frau hat einen Organspendeausweis

Beide haben in einer Patientenverfügung festgelegt, dass sie keine lebensverlängernden Maßnahmen wünschen. Sie genießen ihr Leben – und das jeden Tag. Denn das Leben ist ein Geschenk – das man nach dem eigenen Tod durch die Organspende auch jemandem machen kann.