Tilmann P. Gangloff

Männer, die durch die Lüfte fliegen, Frauen, die Bösewichte ungespitzt in den Boden rammen: Im Kino gibt es Superhelden, die beim Zuschauer Schnappatmung auslösen. Dabei weiß doch eigentlich jeder, dass es solche Helden nicht gibt. Und dennoch gehen die Deutschen für nichts lieber ins Kino als für solche Geschichten, gern mit Weltenrettung.

Ganz egal, ob einst Bruce Willis im Unterhemd in „Stirb langsam“, Bogenschützin Katniss Everdeen alias Jennifer Lawrence in den „Tributen von Panem“ oder heute die „Avengers“. Arnold Schwarzenegger kommt gerade wieder neu als Terminator ins Kino, und Joaquin Phoenix gibt als Joker den durchgeknallten, bösen Antihelden.

Die Menschheit braucht Helden

Die Menschheit braucht Helden, das ist offenkundig. Aber warum? Schon in der Antike gab es Götter, okay, auch mal Halbgötter wie Herkules. Im Mittelalter folgte dann Nibelungen-Held Siegfried. Sie alle waren Vorläufer einer Ära, die Mitte der 1930er-Jahre begann. Damals entwickelten die Amerikaner Jerry Siegel und Joe Shuster das Konzept eines außerirdischen Kämpfers für das Gute: Superman.

Der Ur-Held: Christopher Reeve fliegt als Superman über New York (1978).
Der Ur-Held: Christopher Reeve fliegt als Superman über New York (1978). | Bild: dpa

Seitdem klingelt die Kasse. Zunächst als Comic, dann als Film, mal mit menschlichen Schauspielern, mal im Comic. Anders als Superman, der vom Planeten Krypton stammte, sind die meisten sonstigen Comic-Helden jedoch überwiegend irdischen Ursprungs, und oft ist fehlgeleitete Technik an ihren Superkräften schuld.

Technik außer Kontrolle

Flash, der rasende Blitz (Comicpremiere 1940), verdankt sein Tempo einem Laborunfall. Die ersten menschlichen Weltraumreisenden verwandelten sich in die Fantastischen Vier (1961), als sie bei einem Ausflug ins All in kosmische Strahlen gerieten. Der Nuklearforscher Bruce Banner wurde einer großen Menge Gammastrahlung ausgesetzt und mutiert seither zum grünen Wüterich Hulk (1962), wenn ihn jemand ärgert.

Peter Parker (Tom Holland) in einer Szene des Films „Spider-Man: Homecoming“
Peter Parker (Tom Holland) in einer Szene des Films „Spider-Man: Homecoming“ | Bild: Sony Pictures/dpa

Peter Parker wurde als Teenager von einer radioaktiv verseuchten Spinne gebissen. Sein Spider-Man (1962) steht für die tief verwurzelte Sehnsucht vieler Kinder, jemand völlig anderes zu sein. Für den Medienwissenschaftler Gerd Hallenberger zeigt sich darin das klassische Märchenmotiv: „Der Frosch ist in Wirklichkeit ein verwunschener Prinz.“ Magie habe im 20. Jahrhundert als Erklärung jedoch nicht mehr ausgereicht; daher der wissenschaftliche Ursprung der Superkräfte.

Einzig Batman tanzt aus Reihe: „Er ist und bleibt trotz seines brillanten detektivischen Gespürs ein Mensch, der seine Sonderstellung nicht zuletzt seinem technischen Equipment verdankt.“ Batman wird in diesem Jahr 80; anlässlich des Geburtstags erscheint im Stuttgarter Panini-Verlag, der sämtliche deutschen Superheldencomics publiziert, eine ganze Reihe von Sonderveröffentlichungen.

Ein moderner Götterhimmel

Erste Filme und Serien über die Superhelden gab es bereits in den Vierzigerjahren. Dass die Heroen mittlerweile bevorzugt im Rudel auftreten („X-Men“, „Avengers“, „Justice League“), ist jedoch ein Phänomen der Neuzeit. Hallenberger fühlt sich durch die Ensemble-Werke ans Götter-Pantheon der Antike erinnert.

Die Geschichten ähnelten einer „mythischen Soap-Opera“ mit entsprechenden Zutaten wie Neid, Eifersucht und anderen Animositäten, wie sie aus der griechischen Mythologie bekannt seien: „Das große Ensemble ist die Voraussetzung für einen Fortsetzungs-charakter, den das Publikum im Serienzeitalter erwartet. Das alte Muster – ‚Superheld rettet die Welt, Abspann‘ – würde heute ohnehin niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlocken.“

Sie ist „Catwoman“: Patience Philips (Halle Berry) lässt ihren langweiligen Alltag hinter sich.
Sie ist „Catwoman“: Patience Philips (Halle Berry) lässt ihren langweiligen Alltag hinter sich. | Bild: WarnerBros

Aus Sicht des Diplom-Psychologen Gerhard Bliersbach steht die Begeisterung Jugendlicher für Superhelden „für den tief sitzenden Wunsch des Menschen nach Beziehungen.“ Dieser Aspekt werde bei der Suche nach dem Erfolgsgeheimnis der Filme aus dem Marvel-Universum („Avengers“) gewaltig unterschätzt. Der Kosmos der bislang zwei Dutzend Marvel-Filme sei für das Kinopublikum „wie eine Welt voller Bekannter“, der Gang ins Kino ähnele dem Besuch bei Freunden.

Die Filme sind elend teuer

Natürlich ist die Reihenbildung auch das Ergebnis kaufmännischen Kalküls: Filme dieser Art verschlingen astronomische Produktionssummen. Das letzte „Avengers“-Spektakel, „Endgame“, hat über 350 Millionen Dollar gekostet, Risikovermeidung ist daher oberstes Gebot. Gerade Peter Parker ist nach Ansicht Hallenbergers zudem eine Figur, „in die Teenager allen Alters wunderbar ihre Wunschträume projizieren können: Ich würde auch gern mal kurz die Welt retten.“

Dank Wonder Woman (1941) war dieser Traum schon früh nicht nur den Jungs vorbehalten. Bliersbach sagt allerdings, es gehe nicht allein um den „Riesen-Wunsch“ der Verwandlung, sondern auch um Anerkennung, denn charakterlich bleibe der mutierte Mensch ja derselbe (mit Ausnahme von Hulk). Selbstvergewisserung sei daher ein wichtiges Motiv: „Der Frosch muss sich wandeln, aber Spider-Man möchte gesehen werden.“

Ein schwerer Spagat

Peter Parker bewältige dabei einen schwierigen Spagat: „Einerseits kämpft er ständig gegen Superschurken, andererseits muss er seinen Weg ins Erwachsenenleben finden.“ Seinen Fans gehe es ähnlich: „Mithilfe solcher Fantasien machen wir uns unsere äußeren Wirklichkeiten verfügbar.“ Die Superhelden-Geschichten lieferten die Vorlagen für „Erzählungen getagträumter Großartigkeit“.

Wenn Planeten explodieren

Hollywood sorgt für die entsprechenden Bilder. Weil alles immer bombastischer werden muss, explodieren auch mal ganze Planeten. Die Superhelden sind derzeit nicht nur im Kino erfolgreich; bei Panini erscheinen derzeit so viele Comicreihen wie nie zuvor. Hallenberger erklärt das mit der globalen Entwicklung: Die Welt werde für den Einzelnen immer unübersichtlicher. „Gerade die Filme reduzieren komplizierte Herausforderungen auf einfache Fragen und schlichte Antworten.“

Dennoch sind die Drehbücher erstaunlich komplex. Die Geschichten müssen höheren Ansprüchen genügen, wenn sie auch ein erwachsenes Publikum erreichen wollen. Mit einem Helden, der im Alltag Probleme hat, weil er wegen seiner Supertaten ständig zu spät kommt, kann sich nun wirklich jeder identifizieren.

Die umsatzstärksten Comic-Filme


(in US-Dollar)

  • Avengers: Endgame“ (2019): 2,8 Mrd. (1)*
  • Avengers: Infinity War“ (2018): 2 Mrd. (5)
  • The Avengers“ (2012): 1,5 Mrd. (7)
  • Avengers: Age of Ultron“ (2015): 1,4 Mrd. (9)
  • Black Panther„ (2018): 1,35 Mrd. (10)

* In Klammern die Platzierung auf der Liste der erfolgreichsten Filme aller Zeiten. Alle Filme sind Produktionen der Marvel Studios.