Dorothea Neururer

Herr Messner, Ihre Kindheit im Villnößtal beschreiben Sie als totale Freiheit. Wie hat sich diese Freiheit ausgedrückt?

Die Familie: Die Kinder hatten eine harmonische Kindheit. Bild: Fotoarchiv Fam. Messner
Die Familie: Die Kinder hatten eine harmonische Kindheit. Bild: Fotoarchiv Fam. Messner | Bild: Fotoarchiv Fam. Messner

Sobald wir von der Schule zurück waren und unsere Aufgaben am Hühnerhof erledigt hatten – alle Geschwister mussten mithelfen – , hatten wir die totale Freiheit, weil uns niemand kontrollierte. Beim Spielen draußen und beim Erkunden des Tals machten wir, was wir wollten. Unsere Eltern ließen uns auch machen. Sie hatten Vertrauen in uns. Anders als heute, wo um jedes Kind ein Zaun gebaut und bei allem, was es tut, ein Schrecken damit verbunden wird.

Diese Freiheit bedeutete auch Verantwortung für sich selbst und für die Kleineren. Man hat aufeinander aufgepasst und wenn was passiert ist, war der Große dafür verantwortlich, den Kleinen wieder nach Hause zu bringen. Das war ein ungeschriebenes Gesetz.

Zunächst wollten Sie Sport studieren. Nach einem Unfall wurde es dann Medizin. Wie kamen Sie zur Neonatologie?

Im Beruf: Hubert Messner auf der Frühgeborenen-Station.
Im Beruf: Hubert Messner auf der Frühgeborenen-Station. | Bild: Privatarchiv Hubert Messner

Es sind zwei Dinge. Die berufliche Chance in den frühen 70er-Jahren, als die Neonatologie ein ganz neues Fach war. Mein Vorgesetzter hatte die Vision, in Südtirol eine Station aufzubauen. Er hat mich in jungen Jahren sehr gefördert und ich war Teil dieser Vision. Nach Berufsetappen in Toronto und London bin ich zurück, um das wichtige Vorhaben voranzubringen.

Unsere anfangs kleine Station hat sich zu einem exzellenten Team mit sehr guten pflegerischen Fähigkeiten entwickelt und mit einer Empathie, wie ich sie sonst nirgends gesehen habe. Zum anderen begleitet man in diesem Beruf ein Kind von Anfang an und als Ganzes über viele Jahre hinweg, nicht nur punktuell. Man ist Teil seiner Entwicklung und baut Beziehungen auf. Das ist das Schöne an diesem Fach.

Auf der Frühchen-Station waren Sie stets damit konfrontiert, wie nahe Leben und Tod beieinanderliegen. Wie findet man eine Antwort auf diese existenzielle Frage?

Geht man vom rein technisch Möglichen aus, so hat sich die Grenze der Lebensfähigkeit von der 28. auf die 22. Schwangerschaftswoche verschoben. Aber man muss sich fragen, was ist das Leben und am Ende muss man mit den Eltern eine Entscheidung treffen, die von allen getragen wird. Der Weg dahin geht über Beobachtung. Das Verhalten des Kindes, der Gesichtsausdruck, die Mundmotorik. Dabei setzt man sich mit der Frage auseinander, ob das Kind ins Leben will. Das braucht Zeit und Erfahrung.

Die Kinder machen in dieser kritischen Phase buchstäblich eine Gratwanderung. Wir als Ärzte müssen dabei verstehen, ob dieser Weg ins Leben führt oder in eine Situation, in der sich schwere Komplikationen entwickeln und Kinder dann schnell versterben können. Das ist jedes Mal eine neue Situation und sie erfordert volle Aufmerksamkeit.

Die für mich persönlich schwierigste war, als mein Sohn Alex in der 29. Woche zur Welt kam. Dieses Vorgehen, die prognostisch individuelle Strategie, ist sicher die anstrengendste, weil man nicht allein auf technische Daten und Routine setzen kann. Aber sie wird meiner Meinung nach dem Leben am meisten gerecht.

Die Heimat der Messners: Sonnenuntergang bei der Geislergruppe in den Dolomiten. Im Vordergrund das kleine Dorf St. Magdalena. Das ...
Die Heimat der Messners: Sonnenuntergang bei der Geislergruppe in den Dolomiten. Im Vordergrund das kleine Dorf St. Magdalena. Das Magazin „Geo“ nannte es das schönste Dorf in Südtirol. | Bild: Privatarchiv Hubert Messner

Von Ihrer Mutter haben Sie viel über das Leben und das Sterben gelernt, inwiefern?

Meine Mutter war eine sehr religiöse Frau. Sie hat ihr Leben gelebt und sie hatte Freude in ihrem Leben, auch in der Armut, die da war. Sie war aber auch die Frau, die irgendwann, als ihr die Stiegen schwerfielen, gesagt hat, ich spüre, es ist Zeit zum Sterben. Sie sagte das ganz einfach. Sie hat das Leben und das Sterben als solches angenommen. Das hat mich als Arzt und Mensch sehr beeindruckt und geprägt – das Sterben gehört zum Leben.

Am Nordpol: Hubert und Reinhold Messner.
Am Nordpol: Hubert und Reinhold Messner. | Bild: Privatarchiv Hubert Messner

Als Expeditionsarzt haben Sie Ihren Bruder im Himalaja begleitet. Später waren Sie zu zweit in der Eiswüste Grönlands und am Nordpol. Wie haben Sie sich auf die Kälte vorbereitet?

Für die Kälte haben wir kalt geduscht. Zunächst in kleinen Intervallen und dann bis 20 Minuten. Dabei sinkt die zentrale Körpertemperatur von normal 36,5°C /37°C auf 35°C ab. Der Stoffwechsel verlangsamt sich und man spürt die Kälte viel weniger. Das Reizleitungssystem wird quasi auf die neue tiefe Temperatur eingestellt.

Unseren Grundumsatz unter Kältebedingungen haben wir im Kühlhaus bei -20°C studiert. Insgesamt und mit der mentalen Vorbereitung – die Angst vor dem Unbekannten ist auch da – geht es zwei Jahre, bis man die physische Fitness und die Ausdauer hat.

Auf dem Weg zum Nordpol sind Sie von einer Eisscholle in das kalte Wasser gefallen. Normalerweise überlebt man so etwas nicht.

Das Wasser hat konstant 2 Grad, das ist nicht das Problem. Und wir hatten speziell angefertigte wasserdichte Kleidung. Aber um uns herum bewegten sich haushohe Eisblöcke wie ein riesiges Mahlwerk, das uns mit dem gesamten Material zermalmt hätte. Mit Reinholds Hilfe habe ich es aus dem Wasser geschafft. Die Kleidung war sofort ein Eispanzer, den wir abgepickelt haben. Und dann sind wir im Adrenalinrausch stundenlang weitergegangen.

Auf diesen Expeditionen lernt man Ihren Bruder Reinhold einmal nicht als den physischen und psychischen Übermenschen kennen, sondern als risikobewusst, fürsorglich, der in kritischen Situationen richtig handelt.

Das ist richtig. Mein Bruder ist ein sehr vorsichtiger und ängstlicher Mensch und für mich war er immer der Bruder, kein Übermensch. Auf den Expeditionen war klar, dass jeder für sich selbst verantwortlich war. Aber in den kritischen Situationen war er der Fürsorgliche und hat Verantwortung übernommen.

Er ist diese Person und nicht jene, die die Öffentlichkeit in ihm sieht, das möchte ich im Buch klar differenzieren. Was mit Günther passiert ist (er starb 1970 bei einer Expedition am Nanga Parbat in Pakistan, d. Red.), hat Reinhold sein ganzes Leben lang verfolgt. Und in der Familie herrschte lange Zeit eine Sprachlosigkeit, weil man den Unfall nicht verstanden hat. Auf der anderen Seite standen die Anfeindungen durch die Presse, das macht etwas mit einer Familie. Aber Reinhold hat auch einen Bruder verloren und vielleicht hätten wir uns schon früher explizit auf seine Seite stellen sollen.

Unbeschwert: Hubert und Reinhold Messner auf dem zugefrorenen Meer von Thule, der nördlichsten Siedlung der Welt.
Unbeschwert: Hubert und Reinhold Messner auf dem zugefrorenen Meer von Thule, der nördlichsten Siedlung der Welt. | Bild: Privatarchiv Hubert Messner

Welche Rolle spielt Ihre Frau bei der Gratwanderung durch Ihr Leben als
Arzt, Abenteurer, aber auch als Familienvater und Ehemann?

Meine Frau spielt eine ganz wichtige Rolle. Sie hat das Gleichgewicht in der Familie und zu Hause gehalten. Ich war viel weg. Zu Hause zu bleiben war ihre Entscheidung, auch nachdem unser erster Sohn eine Frühgeburt war und intensive Betreuung und einen verlässlichen Fixpunkt brauchte.

Meine Frau sagt, sie fühlt sich wohl damit. Diese Arbeit zu Hause und in der Familie ist hart. Ich hätte sie nicht geschafft. Wir hatten immer Wertschätzung für das, was der andere beigetragen hat, und haben Freude, dass unsere Kinder sehr gut geraten sind.

Im vergangenen Jahr haben Sie auf einer Corona-Station gearbeitet. Sind Sie in Sachen Pandemie zuversichtlich?

Vermutlich werden wir noch in eine dritte Welle schlittern. Aber wir müssen versuchen, anders auf die Pandemie zu blicken. Es hängt von jedem Einzelnen ab, von unserem Verhalten und ob wir imstande sind, darin auch etwas Positives zu sehen. Das heißt, unsere gewohnte Komfortzone zu verlassen, innovativ zu sein und neue Kraft für unser Gesundheits-, Sozial- und Wirtschaftssystem zu sammeln. Hier müssen wir wieder ein Gleichgewicht finden, um uns als Gesellschaft zu erhalten.

In Ihrer Jugend haben Sie auf Almen gearbeitet und das Studiengeld verdient. Heute nach der Arztkarriere arbeiten Sie wieder auf der Alm. Schließt sich hier ein Kreis?

Dass den Bergbauern geholfen wird, ist immens wichtig. Das Leben dort oben ist einfach und hart. Ich hatte mir immer vorgenommen, das wieder zu machen. Es ist Arbeit mit den Händen am Berg von Sonnenaufgang bis spät abends. Insofern schließt sich der Kreis. Ich liebe diese archaische Welt und die Zurückgezogenheit. Das alles gibt mir große Zufriedenheit.