Seit 55 Jahren wird Geoff Hurst dieselbe Frage gestellt. „War der Ball über der Linie?“ Überraschenderweise variiert seine Antwort. Das könnte daran liegen, dass er sich nicht selbst langweilen möchte. Oder aber er will eben das seinem Publikum ersparen.

Gareth Soutgate (links), Trainer der Three Lions, trifft auf Jogi Löw.
Gareth Soutgate (links), Trainer der Three Lions, trifft auf Jogi Löw. | Bild: Laurence Griffiths, AFP

Der Grund könnte jedoch auch sein, dass der ehemalige englische Nationalspieler für Interviews, in denen er seine Sicht der Dinge zum Besten gibt, hohe Summen verlangt. Immerhin, es geht um das wohl berühmteste Tor/Nicht-Tor der Fußball-Geschichte, das legendäre 3:2 im WM-Finale 1966 im Londoner Wembley-Stadion, als die englische Nationalmannschaft Deutschland in der Nachspielzeit schlug und damit die Träume von Helmut Haller, Hans Tilkowski, Franz Beckenbauer, Siggi Held, Uwe Seeler und Co. platzen ließ.

Das umstrittene Tor: Geoffrey Hurst (r) knallt den Ball unter die Latte, Torhüter Hans Tilkowski (l) kommt nicht an das Leder, dem Willi ...
Das umstrittene Tor: Geoffrey Hurst (r) knallt den Ball unter die Latte, Torhüter Hans Tilkowski (l) kommt nicht an das Leder, dem Willi Schulz (M) nachschaut. | Bild: DPA

Das Wembley-Tor am 30. Juli machte Begegnungen zwischen den beiden Ländern erst zu Klassikern, aber vor allem entwickelte es sich zur Glaubensfrage: drin oder nicht drin? Aus deutscher Sicht kein Treffer. Im Mutterland des Fußballs wurde es jahrzehntelang zwar heiß diskutiert, aber wer will schon den größten – und letzten bedeutenden – Erfolg der Three Lions in Frage stellen? Nun, im Jahr 2021, so meinen die Engländer, es sei mal wieder Zeit für einen Turniersieg. Das Finale der diesjährigen EM findet passenderweise im Wembley-Stadion statt.

„Vermeide es um jeden Preis, gegen Deutschland zu spielen.“
Zitat eines britischen Kommentators

Doch bis dahin, das geben selbst die eingefleischten England-Fans zu, ist es noch ein weiter Weg – und dieser führt bereits im Achtelfinale am Dienstag ausgerechnet über den Angstgegner. Seit dem legendären Match 1966 waren es vor allem die Deutschen, die regelmäßig die Träume der englischen Fußballfans zerstörten. Bei der WM 1990 und der EM 1996 hatte Deutschland die Engländer jeweils im Halbfinale im Elfmeterschießen aus dem Turnier geworfen.

Ein bisschen Kriegsrhetorik darf nicht fehlen

Damals trieften die Titelseiten der Boulevardblätter voller Kriegsrhetorik, sowohl vor als auch nach dem Spiel. Der Autor und Moderator Piers Morgan etwa erklärte Deutschland 1996 den Fußballkrieg: „ACHTUNG! SURRENDER! For you Fritz, ze Euro 1996 Championship is over“, lautete die Schlagzeile vor dem Showdown. Es sollte anders kommen. Und das Trauma sitzt tief, insbesondere beim aktuellen Nationaltrainer Gareth Southgate. Er verschoss vor 25 Jahren seinen Elfmeter. Am liebsten würden es die Engländer deshalb gar nicht erst so weit kommen lassen und das Match in der regulären Spielzeit für sich entscheiden. Doch die Nervosität steigt mit jedem Tag, die Euphorie im Land ist groß.

„Oh nein, es sind die Deutschen!“

Die Geschichte, so meinte diese Woche ein britischer Kommentator, zeige eines: „Vermeide es um jeden Preis, gegen Deutschland zu spielen.“ Diese wüssten, wie man Turniere gewinne und wie man weiterkomme. Eine Beschreibung, die man über die Engländer eher selten hört, selbst in wohlmeinenden Kreisen.

Mannschaftskapitän Jürgen Klinsmann hält 1996 den EM-Pokal in die Höhe, rechts die Queen. Damals ging es gut aus für die Deutschen.
Mannschaftskapitän Jürgen Klinsmann hält 1996 den EM-Pokal in die Höhe, rechts die Queen. Damals ging es gut aus für die Deutschen. | Bild: Oliver Multhaup, dpa

Nun ließ es sich jedoch nicht vermeiden nach dem Unentschieden gegen Ungarn. „Oh nein, es sind die Deutschen“, titelte eine Zeitung und verzichtete immerhin auf die in den Medien sonst üblichen Verweise auf den Zweiten Weltkrieg, zumindest fast. England müsse gegen „seinen alten Feind“ ran, hieß es – zur Erinnerung: Sowohl im ersten als auch im zweiten Weltkrieg war England unter den Siegermächten – sein Empire verlor es trotzdem. Natürlich wurden Erinnerungen an das Halbfinale 1996 heraufbeschworen, das war ebenfalls im Londoner Wembley-Stadion, wo auch am Dienstag der Klassiker stattfinden wird.

Zur Not gibt es noch schwarzen Humor

Sollten die Three Lions wirklich wieder beim Elfmeterschießen scheitern? Es sei „unvermeidlich“, sagen zahlreiche Fans schon jetzt voller Sorge und mit etwas schwarzem Humor. Dabei sind auf der Insel die Hoffnungen eigentlich groß, dass dieses Mal alles anders wird. Die Engländer haben eine junge und selbstbewusste Mannschaft voller Talente. „Wir müssen Deutschland mit Sicherheit nicht fürchten. Genau genommen habe ich bei dieser EM noch gar nichts gesehen, wovor wir Angst haben sollten“, befand der ehemalige englische Nationalspieler Alan Shearer.

England-Fans jubeln – hier während der Vorrunde im Spiel gegen Tschechien. Auch beim Spiel gegen Deutschland dürften die ...
England-Fans jubeln – hier während der Vorrunde im Spiel gegen Tschechien. Auch beim Spiel gegen Deutschland dürften die englischen Anhänger in der Mehrheit sein. | Bild: FRANK AUGSTEIN

Der größte Trumpf der Engländer: Der Heimvorteil wird am Dienstag überwältigend sein. Die Deutschen sind de facto ausgeschlossen aufgrund der Corona-Restriktionen. Rund 45 000 Zuschauer dürfen ins Stadion, doch es wird erwartet, dass davon nur etwa 2000 die schwarz-rot-goldene Flagge schwenken. Auf der Webseite des Deutschen Fußball-Bundes wurde am Freitag bekanntgegeben, dass die Europäische Fußball-Union Uefa Tickets nur Anhängern anbieten könne, deren Wohnsitz in der sogenannten Common Travel Area liege. Dazu zählen Großbritannien, Irland, Isle of Man, Guernsey und Jersey. Hintergrund dafür sind die aktuellen Einreisebestimmungen der britischen Regierung.

19 Tage Isolation für 90 Minuten Spiel?

Die Bundesrepublik steht auf der Liste der Reiseländer in der mittleren Ampel-Kategorie „amber“, gelb. Das bedeutet, dass auf der Insel Ankommende nicht nur vor und nach ihrer Ankunft mehrere Tests machen müssen, sie haben auch eine Quarantänepflicht, die mindestens fünf Tage andauert. Damit zerschlagen sich alle Träume der Anhänger des deutschen Teams, doch am Dienstag das Spiel live im Stadion verfolgen zu können.

Deutsche Fans beim Spiel gegen Ungarn. So zahlreich wie in München dürften die Deutschen nicht vertreten sein.
Deutsche Fans beim Spiel gegen Ungarn. So zahlreich wie in München dürften die Deutschen nicht vertreten sein. | Bild: CHRISTOF STACHE, AFP

Hinzu kommen die Beschränkungen von deutscher Seite. Das Auswärtige Amt warnt vor Reisen nach Großbritannien. Aufgrund der grassierenden Deltavariante des Coronavirus stufte Deutschland das Königreich als Virusvariantengebiet ein, was bedeutet, dass man nach der Rückkehr in die Bundesrepublik 14 Tage in Quarantäne muss. Vor Ort handelt es sich bei den Fans also nur um Schnellentschlossene, die bereits vor einigen Tagen anreisten – und für die 90 Minuten mindestens 19 Tage Isolation in Kauf nehmen.

Delta-Variante auf dem Vormarsch

Tatsächlich stiegen die Corona-Fälle in Großbritannien innerhalb einer Woche um fast 50 Prozent. Zwar sind fast zwei Drittel aller erwachsenen Briten bereits vollständig geimpft und rund 84 Prozent haben mindestens eine Dosis erhalten. Am Samstag wurden 18 270 Menschen positiv getestet, das waren so viele wie seit Anfang Februar nicht mehr.

Deshalb gelten baldige Lockerungen für den Reiseverkehr auch eher als unwahrscheinlich, was wiederum zahlreiche Fußballfans aus ganz Europa nervös macht. Denn neben dem Finale am 11. Juli finden auch die Halbfinal-Partien am 6. und 7. Juli im Wembley-Stadion in London statt.