Plötzlich steht der Soldat im Bus. Er ist jung, vielleicht 18 Jahre alt. Er trägt eine Brille und einen großen Helm. Er zählt ganz konzentriert, für ihn ist es Routine. Für die Gäste ist es eine neue Erfahrung. Nur noch wenige Kilometer sind es bis zur Grenze, hier im Nordosten Südkoreas. Nur noch wenige Kilometer bis zum verfeindeten Nachbarn im Norden, der so nah scheint, aber doch so fern ist.
Der Bus hält am Transit-Büro in der Region Goseong. Der letzte Ort liegt längst hinter uns: Myeongapa, die nördlichste Stadt Südkoreas. Der Strand ist wie von einer Postkarte. Das Meer ist wild, die hohen Wellen brechen sich lautstark. Ausritte mit Pferden werden hier angeboten, direkt neben der Schnellstraße liegt die Koppel. Vor allem im Sommer muss es herrlich sein, gerade herrschen aber auch hier nur wenige Grad über null. Kurz vor Myeongapa haben wir zum letzten Mal gehalten. Zum letzten Mal raus aus dem Bus, registrieren für den Besuch in der Grenzregion. Wir schlendern durch ein kleines Geschäft. Ältere Frauen bieten getrocknete Fische zum Kauf an, wie fast überall in Südkorea. Aber der eigentliche Verkaufshit sind Ferngläser. Wenige Kilometer später wird sich zeigen, warum.
Auf den letzten Kilometern engt ein Stacheldraht die Landschaft ein. Und der Zaun rückt immer näher. Beim Transitbüro reicht er bis an den Bus heran, es ist eine bedrückende Stimmung. Neben der Straße, hinter dem Draht, steht ein unscheinbares flaches Gebäude. Davor sitzen fünf Soldaten in der Sonne. Sie fangen an Fußball zu spielen, in Uniform und mit ihren klobigen Schuhen. Die Stimmung bei ihnen ist entspannt. Es wird viel gelacht. Im Bus redet kaum einer mehr.
Der junge Soldat ist mit dem Zählen fertig. Die Anspannung im Bus steigt weiter. Hier beginnt die Pufferzone zwischen Südkorea und der sogenannten demilitarisierten Zone, eines der letzten Bollwerke des kalten Krieges, wie der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker die Grenzanlagen einmal genannt hat. Fünf bis 20 Kilometer ist sie breit an den verschiedenen Grenzstationen zwischen Süd und Nord. 630 000 Touristen kommen jährlich hierher, um einen Blick zum fremd gewordenen Nachbarn zu werfen. Die meisten kommen aus Südkorea, am vergangenen Wochenende waren es besonders viele. Am Neujahrsfest ist es Tradition, zu den Familien heimzufahren. Nicht alle können das, weil die Grenze sie trennt. Sie zeigen ihre Emotionen, weinen und schreien den Wunsch nach Wiedervereinigung in die kalte Luft über dem Meer hinaus. Ob er irgendwann erhört wird? „Er muss. Es muss die Wiedervereinigung geben. Wenn nicht in meiner Generation, dann in der nächsten“, sagt die 38-jährige Sunjung Lee. Viele ältere Südkoreaner wünschen sich nichts sehnlicher, als dass aus den zwei Koreas wieder eines wird. „So wie in Deutschland“, sagt Lee. „Damals saß ich vor dem Fernseher und habe geweint“, erzählt sie ihre Erinnerung an 1989 und den Mauerfall in Berlin. Diese Emotionen will sie wieder erleben. Viele jüngere Südkoreaner sehen das anders. „Sie kennen die Zeiten des Krieges nicht mehr. Und sie haben Angst, dass sie dann höhere Steuern zahlen müssen“, sagt Sunjung Lee. So wie es heute ist, mit der 250 Kilometer langen Trennlinie am 38. Breitengrad, könnten sie auch weiterhin leben. Es wurde zum Normalzustand für eine ganze Generation.
Die, denen diese Vorstellung gefällt, waren offenbar noch nicht im DMZ-Museum. Dort wird eindrücklich die Geschichte des Koreakrieges erzählt und Bilder des Schreckens gezeigt. Auch ein Stück deutsche Geschichte ist ausgestellt. Ein etwa drei Meter breiter Zaun, der West und Ost lange Zeit getrennt hat. Ein Symbol der Vergangenheit. Und es gibt durchaus kuriose Geschichten. Über die beiden Dörfer in der demilitarisierten Zone: Daeseongdong im Süden, dessen Bewohner keine Steuern zahlen müssen, aber auch nach 23 Uhr nicht mehr vor die Türe dürfen. Und Gijeongdong im Norden, das 1983 errichtet wurde und aus Propagandagründen den mit 160 Metern höchsten Fahnenmast der Welt hat. Er soll die Überlegenheit Nordkoreas demonstrieren. Beide Dörfer trennen nur 1,8 Kilometer. Kurz vor dem Ausgang wächst ein künstlicher Wald aus kleinen Zetteln in die Höhe. Er wird immer größer. Jeder Besucher kann hier auf einem bunten Blatt Papier seinen Wunsch für Korea formulieren. Crystal aus den USA schreibt: „Für eine bessere Zukunft. Ich wünsche euch Vergebung statt Ärger.“ Die meisten Wünsche sind in koreanischer Schrift.
Nichts geht voran
Die Fahrt geht weiter. Zu einem Aussichtspunkt und einem schäbigen weißen Gebäude. Der Putz blättert von den Wänden, unterhalb der Treppen stehen ein Flugzeug und ein Panzer. Das Gebäude ist zweistöckig. Im Erdgeschoss ist ein kleiner Laden untergebracht, die Anti-Kommunismus-Halle. Hier gibt es Likör aus der demilitarisierten Zone zu kaufen. Im ersten Stock ist die Wand komplett verglast. Und wieder stehen überall Ferngläser. Wer sich zuvor keines gekauft hat, kann hier für kleines Geld in die Ferne schauen. Nach Nordkorea, nur wenige Kilometer entfernt. Das Geumgangsan-Gebirge sticht in die Höhe, der Haegeumgang-Fluss fließt vor sich hin. Im höchsten Berg hier sollen die Koreaner Bunker gebaut haben. Weiter links stehen zwei Wachanlagen wie Trutzburgen in der hügeligen Landschaft. Eine südkoreanische, eine nordkoreanische, nur wenige Hundert Meter Luftlinie voneinander getrennt. Eine Straße führt noch tiefer in die zwei Kilometer breite demilitarisierte Zone hinein. Daneben liegen Zuggleise, die die beiden Länder verbinden. Einmal ist ein Zug dort gefahren. Mit großem Getöse und Livebildern im Fernsehen. „Die Züge stehen für die Träume, die Hoffnungen und die Zukunft der beiden koreanischen Staaten“, sagte der damalige südkoreanische Wiedervereinigungsminister Lee Jae Joung im Jahr 2010. Seitdem herrscht auf den Schienen Ruhe.
Nord- und Südkorea befinden sich nach wie vor formal im Kriegszustand. Am 25. Juni 1950 begannen auf der koreanischen Halbinsel verheerende Kämpfe: Die nordkoreanischen Truppen überquerten den 38. Breitengrad, die Grenze zwischen dem kommunistischen Norden und dem prowestlichen Süden. Sie eroberten in drei Tagen Seoul. Zwischen zwei und vier Millionen Menschen wurden in den kommenden drei Jahren getötet, wobei China den Norden und die USA den Süden unterstützen. Nach dem Waffenstillstandsabkommen vom 27. Juli 1953 wird kein Frieden geschlossen.
Vor und während der olympischen Tage von Pyeongchang findet eine Annäherung statt. Nordkoreas Machthaber Kim Jong Un hatte seine Schwester zur Eröffnungsfeier geschickt, zudem treten einzelne nordkoreanische Sportler an. Im Eishockeyturnier der Frauen versuchten sich beide Nationen gemeinsam – ohne sportlichen Erfolg. Unterstützt von rund 200 nordkoreanischen Cheerleadern, die den Gesetzmäßigkeiten kommunistischer Paraden folgend in großer Gruppe und immer gleichklingend auftreten. Einstudiert bis ins letzte Detail, dirigiert und überwacht von griesgrämig dreinblickenden Männern. Sie achten peinlich genau darauf, dass niemand die jungen Frauen anspricht. So weit geht die vermeintlich neue Freundschaft dann doch nicht. Und überhaupt: Südkoreas Präsident Moon Jae In sieht die Zeit längst noch nicht reif für ein Gipfeltreffen mit Nordkoreas Machthaber Kim Jong Un. Erst müsse es Gespräche zwischen den USA und Nordkorea geben, sagt Moon bei einem Besuch im Medienzentrum für die Olympischen Winterspiele in Pyeongchang. Die Charmeoffensive aus dem Norden ist verpufft.
Die Gegensätze zwischen beiden Koreas sind riesig. Dabei sprechen die Menschen die gleiche Sprache, nur die Aussprache ist unterschiedlich. „Wir sind gar nicht so unterschiedlich und verstehen uns“, sagt Sunjung Lee. Eine Annäherung wäre also problemlos möglich, wenn sie denn gewollt ist. Luxus hier, Armut dort. Zukunft hier, Vergangenheitsobsession dort. Südkorea ist die viertstärkste Wirtschaftsnation Asiens, Nordkoreas Wirtschaft stagniert. Machthaber Kim Jong Un steckt sein Geld gerne in ein Atom-und Waffenprogramm. Das Essen für die Bevölkerung wird abgezählt. Je nach Alter und Beruf wird die Menge verteilt. Im Süden sitzen die Leute in der Nähe des Strands von Gangneung, dem Ort der Eiswettbewerbe der Olympischen Spiele, und essen für weit über 100 Euro frische Krabben. An der Promenade stehen Luxushotels. Die Zimmer kosten um die 300 Euro pro Nacht.
Südkorea nutzt die Olympischen Spiele, um für sich zu werben. Die Organisation ist perfekt, die Leute überaus freundlich, selbst den Norovirus haben die Veranstalter dank konsequenten Handelns in den Griff bekommen. Dass in vielen Stadien kaum Stimmung herrscht, liegt an der Unbedarftheit der Südkoreaner mit vielen Wintersportdisziplinen. Sie wissen oftmals schlichtweg nicht, was die Sportler da genau tun. Sie sind aber durchaus angetan davon, wenn sich ein Skispringer viele Meter in die Tiefe stürzt. Ob Olympia allerdings eine nachhaltige Wirkung auf das Land haben wird, ist mehr als ungewiss.
Südkorea ist eine Technologie-Nation. Die Menschen lieben neue Geräte und neue Techniken. Sie stehen Schlange vor dem 5G-Pavillon im Olympischen Park. Das schnelle Mobilfunknetz fasziniert. Es ist eine Versuchsplattform zum Selbertesten. „Während der Olympischen Spiele wollen wir zeigen, was 5G für das tägliche Leben bringen kann“, sagt die Sprecherin des Mobilfunkanbieters KT, Lee Jiyoung. Ein Highlight: ein virtueller Flug von einer Skisprungschanze. Mit dem neuen drahtlosen Netzstandard sollen sich große Datenmengen zuverlässig und schneller übertragen lassen als bisher – mit bis zu 20 Gigabit pro Sekunde. 5G gilt als digitale Schlüsseltechnologie im Zeitalter der Vernetzung. Und in Nordkorea? Dort beschränken sich Internet und Mobilfunk auf ausgewählte Personen. Das Angebot ist begrenzt und dient der Überwachung. Eine landesweite Abdeckung gibt es ohnehin nicht. Nach Eritrea ist Nordkorea das am wenigsten internetfreundliche Land der Welt.
Stichwort Vernetzung, Stichwort Vereinigung: Was bringt die Zukunft? Wie geht es an der Grenze weiter? Unmittelbar nach den Spielen ist Panmunjeom, der Grenzort nördlich von Seoul, für Verhandlungen zwischen beiden Ländern, für Besucher gesperrt. Keine Touristen erlaubt. Der Grund: Militärische Übungen. Immer wieder kommt es auch zu Vorfällen, einzelne Soldaten flüchten. Zuletzt im November 2017, als ein nordkoreanischer Soldat von seinen Landsleuten angeschossen wird, sich aber nach Südkorea retten kann. Diese Gedanken schießen einem durch den Kopf bei der Abfahrt aus der Grenzregion. Der junge Soldat kommt wieder in den Bus. Es ist derselbe wie einige Stunden zuvor. Er zählt wieder. Alles passt, alle an Bord. Er geht wieder hinaus. Seine Kollegen spielen schon wieder Fußball.
Olympia in Südkorea
- Sicherheitslage: Wegen des Konflikts mit Nordkorea waren einige Besucher mit Bauchgrummeln nach Südkorea gereist. Die Annäherung beider Staaten vor der Eröffnungsfeier hat aber für Beruhigung gesorgt. Auch sind die Sicherheitsvorkehrungen bei Weitem nicht so ausgeprägt wie noch vor vier Jahren im russischen Sotschi. Dort waren ständig Soldaten mit starker Bewaffnung zu sehen, die Busse zwischen den Wettkampfstätten waren nach der Abfahrt versiegelt worden. In Südkorea sind die Kontrollen viel entspannter. Zwar geht es ebenso durch einen Scanner wie an jedem Flughafen. Mal dürfen aber zum Beispiel Getränke und Essen mit in die Stadien genommen werden, mal nicht. Und das Erstaunliche: Jeder Kontrolleur ist überaus freundlich. Das war in Russland ganz anders. Allerdings war die Gefährdungslage dort vor vier Jahren eine ganz andere: der Krim-Krieg, Angst vor Terror.
- Zukunft: Die große Frage ist: Was wird aus den olympischen Stätten nach den Spielen? Auch in Südkorea sind Wälder gerodet worden, allerdings bei Weitem nicht in dem Umfang wie in Sotschi. Die russischen Spiele sollen auch um die 40 Milliarden Euro gekostet haben, Pyeongchang ist da mit zehn Milliarden noch vergleichsweise günstig. Sicherlich wird es allerdings Sportstätten geben, die nach Olympia nicht mehr genutzt werden. Das Olympiastadion, in dem ausschließlich Eröffnungs- und Schlussfeier stattfinden, soll zum Beispiel wieder abgebaut und Teile davon anderweitig genutzt werden. (sma)