Der militärische Sieg über den Islamischen Staat (IS) in Ost-Syrien markiert das Ende einer Ära – und den Beginn eines neuen und gefährlichen Kapitels. Die Notwendigkeit, die Extremisten zu besiegen, hat in den vergangenen Jahren mehrere Faktoren überlagert, die jetzt wieder hervortreten.
Was passiert mit den Kurden?
So dürften sich die Spannungen im Osten Syriens verschärfen, weil es ab jetzt um die Zukunft der Kurden in der Gegend gehen wird. In der gesamten Region stellt sich die Frage, wie ein Comeback der Dschihadisten wirksam verhindert werden kann: Schließlich profitierte der IS vom Kollaps der staatlichen Ordnung und von der Unterdrückung ganzer Bevölkerungsgruppen in Ländern wie Syrien, Irak, Libyen und Jemen. Keines dieser grundlegenden Probleme ist gelöst. Die IS-Ideologie könnte leicht neuen Nährboden finden.
In Syrien bleibt Lage explosiv
Im Osten Syriens – dort, wo der IS jetzt seine letzten Enklave, das Dorf Baghus, aufgeben musste – bleibt die Lage explosiv. Die US-Regierung hat ihre Ankündigung eines Truppenrückzugs aus Syrien nicht zuletzt aus Rücksicht auf ihre kurdischen Verbündeten relativiert. Mehr als 10 000 Kämpfer hat die kurdisch dominierte Milizen-Allianz SDF als Hauptpartner Amerikas in den vergangenen Jahren im Kampf gegen den Islamischen Staat verloren. Jetzt erwarten die Kurden im Gegenzug westliche Unterstützung bei der Durchsetzung von Autonomierechten. Doch das erzeugt neue Spannungen.
Türkei sieht eigene Sicherheit durch Kurden bedroht
Die Türkei betrachtet eine kurdische Selbstverwaltung beim Nachbarn Syrien als Bedrohung der eigenen nationalen Sicherheit und die wichtigste Gruppe in der SDF – die Kurdenmiliz YPG – als Terrororganisation. Nach dem Ende der Schlacht in Baghus forderte die SDF bereits die türkische Armee auf, die syrisch-kurdische Stadt Afrin zu verlassen.
Unterdessen erneuert die von Moskau unterstützte syrische Zentralregierung in Damaskus den Anspruch, die Kontrolle über das gesamte Staatsgebiet und damit auch über die kurdische Gegend zurückerlangen. Damaskus wird den Kurden jedoch kaum weitgehende Autonomie einräumen.
Instabilität und Ungewissheit sind gut für den IS
Bisher weiß niemand, wie diese gegensätzlichen Interessen der verschiedenen Akteure miteinander in Einklang gebracht werden können. Instabilität und Ungewissheit sind gut für den IS. Dasselbe gilt für den regionalen Konflikt zwischen den sunnitischen Golf-Staaten und dem schiitischen Iran sowie für das Ringen zwischen den Weltmächten Russland und den USA um Einfluss in Nahost.
Die finanziellen und organisatorischen Voraussetzungen für ein neues Erstarken des IS sind ebenfalls vorhanden. US-Experten nehmen an, dass der IS ein Vermögen von mehreren hundert Millionen Dollar in Sicherheit gebracht hat. Zudem seien zerschlagene Befehlsstrukturen wieder aufgebaut worden. IS-Kämpfer sind in Länder von Afrika bis Asien ausgeschwärmt. Auch in Europa drohen Anschläge.
Wut und Chancenlosigkeit spielen Fanatikern in die Hände
In einem Land wie dem Irak könnten diese Ressourcen von den Extremisten bald für ihre Zwecke eingesetzt werden. Viele sunnitische Iraker fühlen sich unter der schiitischen Zentralregierung in Bagdad wie Bürger zweiter Klasse – Wut und Chancenlosigkeit spielen den Dschihadisten in die Hände.
Auch außerhalb des syrisch-irakischen Krisengebietes läuft für den IS vieles nach Plan. In Algerien und im Sudan wehren sich die Regierungen gegen den Ruf nach demokratischen Veränderungen. In Ägypten unterdrückt die Sisi-Regierung im Namen des Kampfes gegen den militanten Islamismus die Zivilgesellschaft. In Saudi-Arabien lässt Thronfolger Mohammed bin Salman ebenfalls Aktivisten einsperren.
Zu den politischen Problemen treten immense wirtschaftliche und soziale Herausforderungen. Die junge Bevölkerung der arabischen Welt braucht Millionen neuer Arbeitsplätze und eine Perspektive. Bisher zeichnet sich keine Vision ab. All dies schwächte moderate Kräfte und bestärkt radikale Gruppen in der Überzeugung, dass mit friedlichen Mitteln keine Verbesserungen durchsetzbar sind.