In einer beispiellosen Attacke auf das Zentrum der US-Demokratie haben wütende Anhänger des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump das Kapitol in Washington gestürmt. Stundenlang randalierten sie am Mittwoch am Sitz des US-Kongresses. Eine Sitzung des Parlaments, bei welcher der Wahlsieg des künftigen Präsidenten Joe Biden formell bestätigt werden sollte, musste unterbrochen werden. Am späten Abend (Orszeit) kamen Repräsentantenhaus und Senat dann unter rigorosen Sicherheitsvorkehrungen wieder zusammen.

Ex-Soldatin und Trump-Anhängerin im Kapitol erschossen
Am Parlamentssitz hatten sich zuvor Szenen von Chaos und Gewalt abgespielt: Die Randalierer überwanden die Sicherheitsbarrieren und schlugen Fenster ein, einige schafften es sogar in den Sitzungssaal des Senats. Sicherheitsbeamte zückten ihre Schusswaffen und setzten Tränengas ein. Unter zunächst unklaren Umständen wurde eine Frau im Kapitol erschossen. Bei ihr soll es sich laut US-Medienberichten um eine glühende Trump-Anhängerin und Ex-Soldatin gehandelt haben. „Darüber hinaus wurden heute drei weitere Todesfälle aus der Umgebung des Kapitols gemeldet. Eine erwachsene Frau und zwei erwachsene Männer scheinen an unterschiedlichen medizinischen Notfällen gelitten zu haben, die zu ihrem Tod führten“, sagte der Chef der Polizei in der US-Hauptstadt, Robert Contee, in der Nacht zu Donnerstag. Die Nationalgarde wurde mobilisiert und über die US-Hauptstadt eine nächtliche Ausgangssperre verhängt.

Erst vier Stunden nach der Erstürmung gelang den Sicherheitskräften die Räumung des Kapitols von den Randalierern. Die Vorsitzende des Repräsentantenhauses, die Demokratin Nancy Pelosi, sagte danach beim erneuten Zusammentreffen der Kammer: „Wir müssen und werden dem Land – und in der Tat der ganzen Welt – zeigen, dass wir uns nicht von unserer Pflicht ablenken lassen, dass wir unsere Verantwortung für die Verfassung und das amerikanische Volk wahrnehmen.“
Biden bezeichnet Randale als „beispiellosen Angriff“ auf die US-Demokratie
Biden bezeichnete die Randale in einer Ansprache in seiner Heimatstadt Wilmington als „beispiellosen Angriff“ auf die US-Demokratie. Dies sei „kein Protest, das ist Aufruhr“, sagte der Demokrat, der am 20. Januar als Präsident vereidigt werden soll. Trump selber vermied jedoch trotz expliziter Aufforderung durch seinen Amtsnachfolger eine Verurteilung der Randale. In einer Videobotschaft sagte er lediglich an die Adresse seiner Anhängerschaft, dass „Frieden“ gebraucht werde und sie „nach Hause“ zurückkehren sollten.
Zugleich sagte Trump seinen randalierenden Anhängern aber auch: „Wir lieben euch“ – und er wiederholte seine völlig unbelegten Behauptungen, bei der Wahl am 3. November habe es massiven Betrug gegeben. Einige Stunden zuvor hatte der scheidende Präsident seine zu Tausenden in der Hauptstadt versammelte Anhängerschaft mit diesem völlig unbelegten Vorwurf aufgepeitscht und zum Marsch auf das Kapitol aufgefordert. Mit seiner pausenlosen Kampagne gegen das Wahlergebnis hat Trump auch teils Anhänger aus dem rechtsradikalen Spektrum mobilisiert.

Der Gewaltangriff auf das US-Parlament sorgte jedoch bis in die Reihen von Trumps Regierung für Entrüstung. Der scheidende Vizepräsident Mike Pence sagte am Abend bei der Fortsetzung der Senatssitzung: „An jene, die heute Chaos und Verwüstung in unser Kapitol gebracht haben: Ihr habt nicht gewonnen.“ Außenminister Mike Pompeo nannte es „unerträglich“, bei Protesten Gewalt auszuüben.
Senat weist Einspruch gegen Biden-Sieg ab
Im Kongress wurde dann nach der langen Unterbrechung das Prozedere zur Zertifizierung der Wahl fortgesetzt. Dabei wies der Senat einen ersten Einspruch republikanischer Parlamentarier gegen den Biden-Sieg mit überwältigender Mehrheit ab. Der Widerspruch gegen die Anerkennung der Ergebnisse aus dem Bundesstaat Arizona wurde mit 93 gegen sechs Stimmen verworfen. Später scheiterte schließlich auch der zweite Versuch mehrerer Republikaner, das Präsidentschaftswahlergebnis in einem der US-Bundesstaaten anzufechten.

Die Bestätigung des Ergebnisses der Präsidentschaftswahl durch den Kongress ist eigentlich reine Formsache. Diesmal hatte ein Teil der republikanischen Parlamentarier jedoch gleich mehrere Vorstöße zur Blockade der Zertifizierung angekündigt. Sie galten allesamt als aussichtslos. Vizepräsident Pence, der kraft Amtes auch derzeit noch Senatsvorsitzender ist, war zwar von Trump aufgefordert worden, die Wahl-Zertifizierung zu verhindern. Dies lehnte er jedoch ab, da er dazu nicht befugt sei.
Chaos in Washington sorgt international für Entsetzen
Der Sturm auf das US-Parlament löste auch international Entsetzen aus. Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) forderte Trump und seine Anhänger auf, das Votum der US-Bürger bei der Präsidentschaftswahl „endlich“ zu akzeptieren und aufzuhören, „die Demokratie mit Füßen zu treten“. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell verurteilte einen „beispiellosen Angriff“ auf die US-Demokratie.
Während der Tumulte hatten US-Medien den sensationellen Wahlerfolg der Demokraten bei den Stichwahlen um zwei Senatssitze des Bundesstaats Georgia vermeldet. Bidens Partei kontrolliert damit künftig beide Kongresskammern in Washington.
Regierungsmitglieder erwägen laut US-Sendern Absetzung Trumps
Hochrangige Mitglieder der scheidenden US-Regierung haben laut übereinstimmenden Medienberichten am Mittwoch (Ortszeit) über eine mögliche Absetzung von Präsident Donald Trump durch sein eigenes Kabinett beraten. Nach Informationen der US-Sender CNN, CBS und ABC sollen sich diese Überlegungen auf einen Zusatzartikel zur US-Verfassung gestützt haben, der die Entmachtung des Präsidenten durch das Kabinett grundsätzlich erlaubt.
Als Voraussetzung wird in dem „25th Amendment“ genannt, dass der Präsident „unfähig“ ist, die Pflichten und Vollmachten seines Amtes auszuüben“. Kriterien für diese „Unfähigkeit“ sind nicht definiert, gemeint sind generell physische oder mentale Beeinträchtigungen. CNN zitierte anonyme republikanische Führungspolitiker mit den Worten, Trump sei „außer Kontrolle“.
Der abgewählte Präsident, dessen Ausscheiden aus dem Amt ohnehin für den 20. Januar vorgesehen ist, hatte am Mittwoch seine zu Tausenden in Washington versammelte Anhängerschaft mit seinem Redeauftritt aufgepeitscht.
Damit Trump von seinem eigenen Kabinett abgesetzt würde, müsste sein Stellvertreter Mike Pence die Initiative unterstützen. Laut dem Verfassungszusatz muss der Vizepräsident die Kabinettsabstimmung zur Entmachtung des Präsidenten leiten. Pence war über Trumps vierjährige Amtszeit hinweg dessen treuer Weggefährte, hatte sich aber zuletzt von diesem distanziert. Die im „25th Amendment“ vorgesehene Prozedur zur Absetzung des Präsidenten ist allerdings kompliziert – käme sie tatsächlich ins Rollen, könnte sie noch gar nicht abgeschlossen sein, bevor Trumps Amtszeit ohnehin endet.
(AFP/dpa)