Woher Goethe seine Inspiration für den Faust nahm, ist leicht nachzuvollziehen. Vor dem Städtchen Staufen erhebt sich die Burgruine, das Wahrzeichen der 8000-Seelen-Gemeinde wenige Kilometer von Freiburg entfernt. An den Hängen wächst Spätburgunder und Chardonnay. Der Wein blüht früh dieses Jahr, das könnte die Lese gefährden. Der Sommerregen droht die Trauben zur Fäule zu bringen, die Ernte wäre dahin. Noch scheint über Staufen die Sonne, doch über dem Schwarzwald ziehen sich bereits gefährlich graue Gewitterwolken zusammen.
Touristen schlendern durch das Idyll im Breisgau, das, wie die Leute hier sagen, „viel schöner als Freiburg“ ist. Darüber mag man sich streiten. Unstrittig ist, dass dieser Ort absolut malerisch ist. Der historische Stadtkern wird von einem kleinen Bächlein durchzogen, Kopfsteinpflaster säumt die Fußgängerzone
entlang des Hotels zum Hirschen, das Gasthaus zur alten Trotte verweist mit aufgemaltem Wappen stolz auf sein Bestehen seit 1738. Fensterläden und Blumenkästen zieren die Gebäude. Das Goethe-Haus, der Dekoladen Faust & Gretchen und die Faust-Apotheke erinnern an den berühmtesten Einwohner des Städtchens, Doktor Johann Georg Faust, und die wohl bekannteste gleichnamige literarische Aufarbeitung. Doch die malerische Kulisse hat Risse bekommen.
Im Januar wurde der Missbrauchsfall um einen neun Jahre alten Jungen bekannt, der von seiner Mutter Berrin T. und ihrem Liebhaber Christian L. vergewaltigt und im Darknet pädophilen Männern angeboten wurde. Seither ringt die beschauliche Stadt um Fassung. Über zwei Jahre lang ging die Tortur des Kindes. Ein Rückblick: Im März 2017 holt das Jugendamt den Jungen nach ersten Hinweisen auf mögliche Missstände aus der Familie, doch das Familiengericht Freiburg entscheidet nach nur einem Monat, dass er wieder zu seiner Mutter soll. Der Lebensgefährte, ein vorbestrafter Sexualstraftäter, darf offiziell keinen Umgang mit dem Kind haben. De facto geht er bei der Frau ein und aus. Die Folter geht weiter, bis schließlich im September ein anonymer Hinweis beim Landeskriminalamt in Stuttgart eingeht. Die Polizei kann eine belastende Festplatte mit Film- und Datenmaterial aus dem Staufener Stadtsee fischen. Das Paar wird festgenommen, das Kind kommt in staatliche Obhut. Zwei der Männer, die sich an dem Kind vergangen hatten, standen bereits vor Gericht. Doch keine Haftstrafe kann das Trauma des Jungen wiedergutmachen. Auch nicht die am 11. Juni beginnende Hauptverhandlung in Freiburg gegen die Frau und ihren Freund.
Stumme Wut
Im Café Faller wird hervorragender Kuchen serviert, draußen sitzen Motorrad- und Radtouristen, trinken Bier und laben sich an der Beschaulichkeit Staufens. Ein Kunstwerk, eine aus rostigen Hufeisen geformte Kugel, findet die Bewunderung einiger Gäste. Die Bedienung empfiehlt die offenbar ortsberühmte Heidelbeerwaihe, ein Hefegebäck mit Baiserhaube. „Sind Sie wegen der Risse da?“, will die freundliche Dame wissen. Über dem Café zieht sich ein Riss durch die Hausmauer, darüber klebt ein Plakat: „Staufen darf nicht zerbrechen“. Es ist das Ergebnis von Geothermie, die zu Hebungen in der Ortschaft geführt hat und die historischen Gebäude bedroht, wegen der jährlich gut eine Million Touristen in das Städtchen kommen. Über den Missbrauchsfall wird hier nicht gern geredet, erzählt die Bedienung. „Da wird eher hinter vorgehaltener Hand getuschelt“, vermutet sie: „Die Leute verdrängen es wohl.“
Darauf angesprochen reden die Leute dann aber auch ohne vorgehaltene Hand. Kopfschüttelnd, auf den Boden blickend. „Furchtbar ist das alles“, sagt eine Frau, die mit ihren drei Freundinnen in der Sonne sitzt und Kaffee trinkt. „Ich habe eine Enkelin, die ist acht Jahre alt. In dem Alter spielt Sexualität doch noch gar keine Rolle.“ „Schrecklich“ findet es auch ihre Sitznachbarin: „Die rechtlichen Mühlen mahlen einfach zu langsam“, findet sie. „Aber wissen Sie“, fügt die Dritte hinzu: „Ich bin fast froh, dass es ein Deutscher war. Sonst hätten wir jetzt auch noch dieses Gehetze gegen Ausländer.“ „Dem sollte man den Schniedel abschneiden“, bringt sich die Vierte in der Runde ein. Leid tut es den Damen für den Jungen: „Dem kann nichts mehr helfen. Dieses Kind hat keine Zukunft mehr“, fürchten sie.
Der Junge, der inzwischen abgeschottet von der Öffentlichkeit und außerhalb von Staufen lebt, sei „ein ganz Süßer“ gewesen, immer höflich, vielleicht ein bisschen schüchtern. So erzählt es zumindest Dietrich Henninges. Er hatte seine Souterrain-Wohnung an die alleinerziehende Mutter vermietet – Hartz-IV-Empfängerin sei sie gewesen. „Sie sah mies aus“, erinnert sich der Rentner. „Sie wurde von ihren ehemaligen Vermietern zur Besichtigung gebracht, die haben sie über den grünen Klee gelobt“, berichtet der 81-jährige pensionierte Internist. Dabei hätten sie sie nur loswerden wollen. Die Frau, die habe ihm nie in die Augen blicken können: „Die hatte was zu verbergen.“ Henninges ist wütend. „Sie glauben ja nicht, wie empört ich bin“, sagt er: „So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht erlebt.“
Erst, als die Kripobeamten vor seiner Tür stehen, wird er hellhörig. Sie wollten wissen, wie oft Christian L. bei der Frau sei und ob er auch über Nacht bliebe. „Ja ist der denn pädophil“, fragte der langjährige Arzt – „da haben die Beamten nur gelächelt. Und da wusste ich es.“ Nichts habe er bis dahin mitbekommen von dem Leid des Jungen. „Das alles hat sich ja auch nicht hier abgespielt. Da gab es einen Wohncontainer am Bahnhof, da hat das alles stattgefunden.“ Das alles. Christian L. hat als Zeuge im Prozess gegen einen der „Kunden“ ausgesagt und von „50 bis 60“ Vergewaltigungen des Kindes berichtet – er selbst habe sich etwa ein Mal wöchentlich an dem Jungen vergangen.

Schreckliche Gewissheit
Etwa neun Monate lebte die Mutter mit ihrem Kind in der Wohnung. „Die kam meistens mit dem Taxi“, erzählt eine Anwohnerin. Von ihrem Fenster blickt sie direkt auf die Souterrain-Wohnung nebenan. „Da brannte fast die ganze Nacht das Licht, das schien mir immer direkt ins Schlafzimmer“, erinnert sie sich. Der Junge sei „immer lieb und nett“ gewesen: „Da konnte einem nichts auffallen.“ Vielleicht, vermutet sie, hat die Mutter dem Kind eingebläut, nichts zu sagen. Die sei irgendwie „seltsam“ gewesen, machte einen verwirrten Eindruck. Der Mann, der sei aggressiv gewesen, erzählt die Nachbarin. Sie ist dabei, auszuziehen, wie viele in dem Mietkomplex. „Das ist hier ein Kommen und Gehen seit dieser Sache.“
Als Vermieter Henninges mitbekam, dass der Mann dort ein und aus ging und irgendwann praktisch dort lebte („der hat getrunken, geraucht und geschnarcht“), versuchte er der Frau zu kündigen. Doch das Gericht lehnte seine Klage auf Eigenbedarf ab, sein erwachsener Sohn durfte nicht einziehen. Inzwischen spitzte sich die Situation zu, häufiger sei es zu „Auseinandersetzungen“ gekommen. Henninges berichtet von Schreien des Kindes. „Ich will nicht“, soll es gerufen haben. Als das Paar verhaftet wurde, räumte der frühere Arzt die Wohnung. „Sie glauben nicht, wie es da ausgesehen hat.“ Fotos hat er nicht mehr, eine Boulevardzeitung habe seine Speicherkarte unter einem Vorwand ausgeliehen. Als er sie zurückbekam, sei sie leer gewesen. Die Sachen der Frau hat er weggegeben. Inzwischen wohnt ein Bulgare mit seinem Sohn in der Wohnung: „ein guter Mann“ – er weiß nichts von dem Skandal, der Staufen erschüttert, nichts über das Leid des Kindes, das hier zuvor lebte.
Henninges Vertrauen in die Menschheit ist erschüttert. „Ich bin nicht mehr so blauäugig wie früher“. Berrin T., der ab kommender Woche der Prozess gemacht wird, wünscht er den Tod. Sie soll bereits versucht haben, sich das Leben zu nehmen. „Sie hätten sie doch hängen lassen sollen“, schimpft der ehemalige Internist. „Wissen Sie“, sagt er, „der stärkste Trieb ist doch der Muttertrieb.“ Er will als Zeuge aussagen gegen die Frau, aber eine Ladung habe er noch nicht bekommen. „Ich werde den Mund aufmachen“, erklärt er. Sauer sei er, vielleicht auch auf sich selbst. Weil er nicht früher etwas gesagt hat. Und „das nie mehr gut zu machen ist“. Der kleine Junge, der werde „nie mehr ein normales Leben führen können“.
Unten im Städtchen geht das normale Leben weiter. Touristen schlendern durch die Stadt, schlecken Eis von der „Kalten Sophie“, blicken bewundernd an den Hausfassaden empor, laben sich an der Idylle – trotz aller Risse.
Prozessbeginn gegen Mutter und Partner
Am kommenden Montag beginnt die Hauptverhandlung gegen die Mutter des missbrauchten Jungen und ihren Lebensgefährten vor dem Landgericht Freiburg. Hier die wichtigsten Daten und Fakten:
- Angeklagte: die Mutter des Kindes, Berrin T. (48) und ihr Lebensgefährte Christian L. (39). Beide sitzen seit ihrer Festnahme Mitte September in Untersuchungshaft.
- Tatvorwurf: Die Staatsanwaltschaft wirft den beiden Tatverdächtigen mehrfache schwere Vergewaltigung, schwerer sexueller Missbrauch von Kindern, besonders schwere Zwangsprostitution und die Verbreitung kinderpornographischer Schriften vor. Das heute neunjährige Kind soll über zwei Jahre hinweg im Darknet für Vergewaltigungen angeboten und in diesem Zeitraum vielfach missbraucht worden sein. Die Taten sollen zum Teil gefilmt und verbreitet worden sein.
- Prozess: Für die Verhandlung hat das Landgericht Freiburg zehn Termine angesetzt: 11. Juni, 18. Juni, 19. Juni, 26. Juni, 27. Juni, 04. Juli, 05. Juli, 09. Juli, 13. Juli und 16. Juli. 13 Zeugen sollen vernommen werden, ein Gutachten eines psychiatrischen Sachverständigen soll die Notwendigkeit einer anschließenden Sicherheitsverwahrung einschätzen.