Rottweil entwickelt sich derzeit zu einem Zentrum der „Spaziergänger“. Aber auch zu einem der Gegenbewegung. Am Montag versammelten sich etwa 1100 weitgehend maskenfreie Menschen in der Stadt. Gleichzeitig bildeten 300 Leute eine Menschenkette und stellten vor dem historischen Rathaus Kerzen auf, für jeden Corona-Toten eine. Und weiter oben sorgten die Klepfer für lautstarken Protest.

Denn in der Zeit zwischen Dreikönig und Fasnachtsdienstag knallt es in Rottweils Gassen und Straßen, das gehört dazu – auch ohne Corona-Proteste. Dass die Spaziergänger die Innenstadt für sich beanspruchten, passt vielen da nicht. Auch nicht Jonathan Springer. Er ist 20 Jahre alt, seine erste Peitsche, in Rottweil Goaßl genannt, hat er mit drei Jahren bekommen, seitdem klepft er, was das Zeug hält.

Klepfer im Schneefall Video: Moni Marcel

Zur aktuellen Situation positioniert sich Jonathan klar. „Ich verstehe, dass Leute gegen die Corona-Maßnahmen demonstrieren wollen. Aber wenn sie rufen ‚Wir sind das Volk‘, dann hört‘s bei mir auf.“ Nein, mit Nazis spaziert man nicht, findet er, niemals. Und deshalb steht er hier, mit seinen weißen Lederhandschuhen, und setzt Zeichen seiner eigenen Art. Lautstark.

„Verwirrte“ Menschen

Die Menschen, die nicht auf Distanz zu den Nazis unter den Spaziergängern gehen, nennt er „verwirrt“, und dass unter ihnen Bekannte, Kollegen sind, nimmt ihn mit. Jonathan engagiert sich auch beim Stadtjugendring, er kam heute schon früh hierher, gleich nach der Arbeit, um beim Aufbau zu helfen. Die Lautsprecheranlage, die vielen Kerzen, für jeden Corona-Toten im Landkreis eine. „Ich bin froh, dass wir etwas bewegen können“, sagt er.

So klingen die Peitschen Video: Moni Marcel

Zu ihm gesellen sich bald weitere Klepfer, so etwa sein Freund Lukas Auch. Sie sind ein eingespieltes Team, und tauschen auch mal die Goaßln. Geklepft wird in Rottweil nicht nur aus Spaß und weil‘s so schön knallt, sondern auch, um sich für Fasnachtsmontag und -dienstag fit zu machen.

Denn beim berühmten Rottweiler Narrensprung sind sie einer der Höhepunkte, die „Rössle“, ein Dreiergespann aus eben dem Rössle und den beiden Treibern, die versuchen, den Gaul im Zaum zu halten, während der immer wieder ausbüxt.

Ziel der Treiber mit ihren Peitschen ist vorrangig der Gänsekiel auf dem Kopf des Rössle-Trägers, ist der unten, gibt‘s eine Wurscht. Und einen neuen Kiel. Und um das den ganzen Tag durchzuhalten, wird eben fleißig geübt.

Ein echtes Schauspiel

Man muss gut sein, will den Zehntausenden am Straßenrand schließlich ein echtes Schauspiel bieten. Doch heute geht es nicht um ein Schauspiel, sondern um ein Statement. Bei dem Jonathan durchaus selbstkritisch bleibt, denn es trägt auch dazu bei, dass die Fronten weiter verhärtet werden, das sagt er ganz klar. Je mehr Mahnwachen und Menschenketten, desto mehr Spaziergänger, so könnte man es zusammenfassen.

Klepfer Jonathan Springer (rechts) und sein Kollege Lukas Auch üben mit den Goaßln für den Narrensprung.
Klepfer Jonathan Springer (rechts) und sein Kollege Lukas Auch üben mit den Goaßln für den Narrensprung. | Bild: Moni Marcel

In den entsprechenden Telegram-Gruppen wurde dazu aufgerufen, ohne Maske durch die Obere Hauptstraße zu spazieren. Eine Art Machtdemonstration? Polizei und die Ordner der Menschenkette verhindern sie allerdings. Vom Rathaus erklingt jetzt John Lennons „Imagine“, die Menschenkette singt mit, tanzt, schwenkt die Handy-Kameras. Auch ein Statement, für eine Welt ohne Grenzen, ohne Religionen, ohne Krieg.

Schweigeminute für die Toten

In einer Schweigeminute wird eingangs der Corona-Toten gedacht. Später gibt es eine weitere, spontane, für die beiden am frühen Montagmorgen ermordeten Polizisten. In den Telegram-Gruppen hingegen werden die Beamten beschimpft, weil sie heute durchgriffen, es Anzeigen gab wegen Verstößen gegen die Maskenpflicht und anderem.

Ja, hier ist eine Spaltung, es sind Fronten, das sieht auch Jonathan Springer so. „Das wühlt mich auf“, sagt der 20-Jährige. Es sind Fronten zwischen Spaziergängern und Mahnwachenden, zwischen Freunden, Bekannten, Kollegen. Zwischen Rottweilern. Aber auch das ist irgendwann Geschichte. Dann wird es auch wieder eine richtige Fasnet in Rottweil geben. Und Jonathan eines Tages vielleicht im Rössle d‘ Stadt nab jucken. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.