Herr Schneider, normalerweise ist unser Blick in Richtung Schweiz neiderfüllt oder bewundernd. Beim Thema US-Zölle aber hat die Schweiz ausnahmsweise das Nachsehen gegenüber Europa. Wie tief sitzt die Schmach im Nachbarland, was kriegen Sie mir? Welche Auswirkungen hat das auf das Schweizer Selbstwertgefühl?
Gerald Schneider: Das kam für viele überraschend. Viele sind in der Fehlwahrnehmung gefangen, als reicher Kleinstaat könne man sich alleine behaupten – nur mit einem dicken Geldbeutel und mit guten Argumenten bewaffnet. Das funktioniert aber in einer Welt nicht mehr, in der Verträge, internationale Institutionen und Vertrauen keine Rolle mehr spielen und ein Herr Trump selbst den besten Freunden die Pistole auf die Brust setzt.
Die Schmach sitzt tief. Die Boulevard-Presse sprach etwa von der schlimmsten Niederlage seit Marignano, der Niederlage von 1515, in der die alte Eidgenossenschaft ihre Mittelmachtpläne aufgeben musste. Ob das Selbstwertgefühl längerfristig leidet, hängt von der Tiefe der ökonomischen Verwerfungen ab, auf welche die Schweiz nun zusteuert. Aber sicher gilt auch in diesem Fall: Hochmut kommt vor dem Fall.
Bei Trump weiß man natürlich nie, was kommt, aber dass es gleich so dick kommt... Hat die Schweizer Regierung schlecht verhandelt?
Schneider: Ja, die Regierung hat sich gleich an die Brust von Herrn Trump geworfen und einseitige Konzessionen gemacht. Man hätte den Zappelphilipp im Weißen Haus zappeln lassen sollen – so wie es die EU gemacht hat, auch wenn diese vielleicht aus sicherheitspolitischen Erwägungen heraus zu wenig hart verhandelt hat.
Die Verhandlungstheorie lehrt ganz eindeutig, dass Geduld sich lohnt und einen besseren „Deal“ garantiert. Aber die Unausgegorenheit der Schweizer Verhandlungstaktiken hat sich schon früher gezeigt, etwa gegenüber der EU, als man nicht die Lehren aus dem Brexit-Fiasko der Briten zog.
Was hätte Karin Keller-Sutter anders machen müssen?
Schneider: Demut zeigen und Herrn Trump schmeicheln, so wie es andere getan haben. Frau Keller-Sutter hat aber allem Anschein nach Herrn Trump mit Argumenten beikommen wollen. Das funktioniert aber nicht gegenüber einem Verhandlungspartner, der nichts von Handelspolitik versteht und absurden Theorie über die Wohlfahrtssteigerung durch hohe Zölle anhängt.

Die Regierungschefin hatte JD Vance nach seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz beigepflichtet. Um besser dazustehen bei den Amerikanern?
Schneider: Das war wohl ernst gemeint. Es gibt bei Frau Keller-Sutter wie bei vielen Bürgerlichen in der Schweiz immer noch diese Illusion, dass die Republikaner eine Partei wie vielleicht die CDU oder CSU seien, mit der man eine Allianz bilden könne gegen die EU und grüne bzw. linke Politikrezepte.
Die Bundespräsidentin hat damals und auch noch während den Verhandlungen mit Trump nicht begriffen, dass man auch selber Opfer der Übergriffigkeiten von Herrn Vance und dessen rassistischen Parteigenossen werden kann. Die treiben ja jeden Tag eine andere Sau durch die Fernsehstudios von Fox und anderen Kanälen. Da nützt es wenig, wenn man sich rhetorisch unterwirft...
Warum ist Trump eigentlich so schlecht auf die Schweiz zu sprechen?
Schneider: Weil die Schweiz einfach kleiner ist als die EU und sich keine Bündnispartner sucht, um geeint gegen das Weiße Haus aufzutreten. Die Schweiz an sich spielt hier keine Rolle. Herr Trump bzw. seine Berater zaubern die Zahlen aus dem Hut, die ihnen gerade nützen – und können halt Kleine besser erpressen kann als eine wirtschaftliche Großmacht wie die EU.

39 Prozent Steuern – wie kommt er eigentlich dazu? Ich habe gelesen, das hänge vermutlich mit dem Handelsüberschuss von 38,5 Milliarden Franken zusammen – kann das sein?
Schneider: Eben, man nimmt einfach eine vermeintliche Kennzahl und konstruiert daraus einen absurden Forderungskatalog. Eine vernünftige Politik würde ja auch berücksichtigen, wieviel Investitionen aus Ländern wie der Schweiz in die USA fließen und der wankenden Großmacht erlauben, über ihre Verhältnisse zu leben.
Wie wirkt sich das auf die Schweizer Wirtschaft aus?
Schneider: Das schafft zunächst einmal Unsicherheit und Produktionseinbrüche in den Unternehmen, die überdurchschnittlich viel in die USA exportieren. Standortverlagerungen, Personalabbau und eine Umorientierung der Handelspolitik werden die Folgen sein.

Welche Branchen werden künftig Probleme haben, Ihre Produkte in die USA zu exportieren? Welche nicht?
Schneider: Die Uhren- und die Pharmaindustrie etwa und Teile der Maschinenindustrie, gerade kleinere und mittlere Unternehmen, die mit Spezialprodukten in den USA bislang Erfolg hatten.
Welche Auswege bieten sich an? Z.B. eine Niederlassung in Deutschland aufzumachen – kann man dann mit EU-Sätzen in die USA exportieren?
Schneider: Produktionsverlagerungen werden jetzt sicher in vielen Unternehmen diskutiert werden. Aber man weiß ja nicht, wie lange die hohen Zölle in Kraft bleiben und ob nicht eine Annäherung des Zollniveaus an jenes der EU stattfindet. Eine teilweise Verlagerung der Produktion in die USA wird nur für bestimmte Branchen wie die Pharmaindustrie eine Rolle spielen.
Es wird aber auch durchaus Unternehmen aus der EU geben, die nun eventuell die Produktion in der Schweiz herunterfahren. Und längerfristig werden natürlich auch die großen Dienstleister wie die Banken unter Druck geraten, weil der Standort Schweiz weniger attraktiv wird.
Werden die Schweizer an Wohlstand einbüßen?
Schneider: Ja, der Wohlstandsverlust wird sicher groß sein, die öffentlichen Kassen werden auch stärker über Arbeitslosenunterstützung und so weiter strapaziert werden. Es ist auch zu zweifeln, ob man wie in den 1970er Jahren einfach die Arbeitslosigkeit exportieren kann, dadurch dass man entlassene ausländische Arbeitskräfte einfach in ihre Herkunftsländer zurückschickt. Auf alle Fälle werden die ärmeren Bevölkerungsschichten überproportional leiden, weil die Löhne sicher nicht mehr stark wachsen werden.
Die sogenannten Grenzgänger, die in Deutschland leben und in der Schweiz arbeiten, werden das Ganze aufmerksam beobachten. Sind Ihre Jobs gerade unsicherer geworden – oder ist es zu früh das zu beurteilen?
Schneider: Auch die Grenzgänger werden natürlich davon betroffen sein, die Lohnentwicklung wird mit großer Wahrscheinlichkeit ein Verleiben oder eine Rückkehr nach Deutschland attraktiver machen.
Wie groß sehen Sie die Chancen, dass die Schweiz nachverhandeln und ein besseres Ergebnis rausschlagen kann?
Schneider: Das ist schon möglich, aber hängt im Wesentlichen von den Zöllen gegenüber Pharmaprodukten ab. Da ist die Schweiz ja nur ein Zielland unter vielen. Nachverhandlungen sind für die USA nicht so wichtig, besonders nicht mit Zwergen wie der Schweiz.
Was bedeutet das fürs Schweizer Verhältnis zur EU? Steigen die Chancen für einen EU-Beitritt, oder müsste es da noch viel dicker kommen?
Schneider: Da ist im bürgerlichen Lager nun einiges in Bewegung und vielleicht auch bei der Linken. In den letzten Jahren gab es gegenüber der EU eine unheilige Allianz zwischen der SVP und den Gewerkschaften, die aus unterschiedlichen Motiven heraus die Annäherung an die EU bekämpften. Diese Koalition ist nun gefährdet.
Die Chancen darauf, dass nun die EU als Partner und nicht als Feind wahrgenommen werden, sind also gewachsen. Aber bis zu einem neuen Beitrittsgesuch braucht es noch eine tüchtige Entrümpelung im ideologischen Arsenal der Schweiz – etwa eine Abkehr von der Neutralität als Ziel statt als Mittel der Außenpolitik.