Als am 31. August 2015 Bundeskanzlerin Angela Merkel vor die Mikrofone tritt, formuliert sie ihren legendären Satz: „Wir schaffen das.“ Wir schaffen das, Hunderttausende Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan und dem Irak aufzunehmen, sie zu versorgen und zu integrieren. Am Münchner Hauptbahnhof halten Deutsche auf den Bahnsteigen „Willkommen“-Schilder hoch, als die Züge mit den Menschen einfahren.

Abdul Sattar Tajik ist nicht in München. Er erlebt die Willkommenskultur aber auch – in der bayerischen Stadt Erding. Deutsche stehen auch dort am Bahnhof, ebenfalls mit „Willkommen“-Schildern und sie verteilen Tee, Obst und Butterbrote an die Ankommenden. Der damals 24-Jährige und sein 13-jähriger Neffe Mohammed sind unter ihnen. Heute sagt er: „So nett waren damals die Deutschen“. In Serbien und Ungarn, Stationen auf seiner langen Reise, erdulden die beiden noch Schläge und Tränengas seitens der Polizei – welch ein Kontrast.

Tajik hat sich aus dem Iran nach Europa aufgemacht. Aber da seine Eltern 1980 aus Afghanistan ins Land gekommen sind, gilt er in Iran weiterhin als Afghane. 1980 ist die Zeit der sowjetischen Invasion des Landes und des beginnenden Bürgerkriegs. Die Familie bringt sich durch die Flucht ins Nachbarland Iran in Sicherheit. Dort wächst Tajik auf, begehrt als Student gegen das autoritär-islamistische Regime auf.

Schlauchboot kentert auf dem Mittelmeer

Seinen Entschluss, das Land zu verlassen, teilt er 2015 nur seinem Vater mit. So ging es zuerst in die Türkei. Mit zehn Personen im Minischlauchboot soll die Überfahrt nach Griechenland gelingen. Die Zehn haben Zweifel daran, doch der Schleuser zwingt sie mit der Pistole an Bord. Unterwegs bringt sie die Welle eines vorbeifahrenden Schiffs zum Kentern. Sie können sich vier Stunden schwimmend über Wasser halten, bis sie das griechische Militär rettet. Doch die persönliche Habe von allen ist untergegangen. In Serbien trifft er dann zum ersten Mal auf einen Menschen aus Deutschland, eine Frau, Freiwillige der Uno. Sie sagt zu ihm: „Geh nach Deutschland, mach eine Ausbildung und du wirst es gut dort haben.“

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Tajik nimmt sich, obwohl Deutschland eigentlich nicht auf seinem Radar ist, den Rat zu Herzen, wird Fachkraft in der Altenpflege und ist seit Ende 2024 eingebürgert. Er sagt: „Wenn man sich willkommen fühlt, macht man auch mit. Wenn man ausgeschlossen wird, kommt Frust.“

Sarah Sprenger, Fachbereichsleiterin Migration beim Caritasverband Hochrhein, wandte sich mit Tajiks Geschichte an diese Zeitung. Sie treibt der Wunsch an, dass andere Titel mit afghanischen Geflüchteten in den Medien stehen: Arbeit statt Attentat, Integration statt Islamismus, Job statt Jihad. Auch wenn sie weiß, dass es die „normalen“ Geschichten hier eher schwer haben dürften.

Aber Sprenger betont auch: „Eigentlich arbeiten wir wenig mit Best-Practice-Fällen“. Damit meint sie, nicht dauernd die Erfolgsgeschichten von gelungener Integration in den Vordergrund zu stellen. Die Botschaft soll eher sein: Wir wollen die Hürden beiseite räumen, welche Integration behindern. Wir wollen die Probleme benennen.

Wie Geflüchtete wohnen, ist in aller Regel ein Problem. Als Tajik die Tiengener Containersiedlung in der Badstraße zum ersten Mal sieht, schluckt er. Da soll er jetzt wohnen? Aus einer Mittelschichts-Familie stammend, ist er anderes gewohnt. Die Monate des Wartens auf den Asylentscheid sind mit Nichtstun und Langeweile verbunden. Aus der Siedlung herauszukommen in eine eigene Wohnung ist mit seinem Nachnamen schwierig. Im Integrationskurs gibt es keinen Platz für ihn.

Aber er findet Deutsche, die ihn an die Hand nehmen, ihn privat im Haus unterbringen, ihm ehrenamtlich Deutsch beibringen. Sie fassen Vertrauen zu ihm, weil er sich selbst auch anstrengt. Sie denken: Der kann es schaffen, der ist motiviert.

Die Angst vor Abschiebung lähmt

Aber die Angst vor Abschiebung, die er in der Unterkunft immer wieder beobachtet, lähmt ihn. „Ich hatte Angst, der Nächste zu sein.“ Doch mit der Ausbildung zur Pflegefachkraft ist er vorerst sicher. Zwischenzeitlich kommt die Ablehnung des Asylantrags. Er legt dagegen Beschwerde ein und bekommt – erst vier Jahre später – recht. Er ist damit voll anerkannter Flüchtling.

Abdul Sattar Tajik erzählt, in neun Jahren Deutschland nur zwei Mal rassistisch beleidigt worden zu sein – privat. Aber manchmal passiere es auch im Job. Er habe eine professionelle Art damit umzugehen, führt es auch auf die Demenz der Patientinnen und Patienten im Pflegeheim, seinem Arbeitsort, zurück. Aber wenn wieder Berichte über gewalttätige afghanische Geflüchtete auftauchen, fürchtet er sich davor, von den Leuten in einen Topf geworfen zu werden, wie er sagt.

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Dass sie ihm es übelnehmen könnten, dass er jetzt einen Job in der Schweiz angenommen hat, denkt er auch. Dem Land den Rücken kehren, dem er so viel verdankt? Andererseits: Jeder ist seines Glückes Schmied und auch als Grenzgänger werde er ja weiterhin seine Steuern hierzulande bezahlen – und das nicht zu knapp.

Abdul Sattar Tajik ist nach Deutschland eingewandert. Ist das nun das Ende seiner Fluchtgeschichte? Ist er angekommen? Zu Hause? Bei 24 Prozent AfD-Anteil in Umfragen, sagt er, komme ihm dann doch manchmal der Gedanke: „Irgendwann wandere ich aus.“