Seit knapp drei Wochen gelten in der Schweiz massive Lockerungen. Die neuen Freiheiten sind umfangreich: Besuche im Kino oder dem Museum, Training im Fitnessstudio und der gemütliche Kaffee auf einer Terrasse sind wieder möglich. Der Einzelhandel hat ohnehin seit März wieder offen. Sogar Veranstaltungen sind wieder möglich – mit bis zu 50 Teilnehmern in geschlossenen Räumen, bis zu 150 an der frischen Luft.

Einschränkungen gibt es damit kaum noch. Damit hat die Schweiz viel gewagt – und deutlich mehr als seine europäischen Nachbarn. Aber ist der Plan auch aufgegangen?

Spöttelnde Kommentare aus der Schweiz

„Es scheint fast so, als ob es dem Coronavirus egal wäre, ob eine Ausgangssperre ab 22 Uhr gilt, wie in weiten Teilen Deutschlands, oder ob man sich wie in der Schweiz auf der Restaurantterrasse mit Freunden zum Kaffee treffen kann“, schreiben die „Neue Zürcher Zeitung“ etwas sarkastisch mit Blick auf die hiesigen Regeln.

Auch der Tessiner Virologe Andreas Cerny sagt dem SÜDKURIER: „Es sieht gut aus.“ Er sei „positiv überrascht“, gesteht er. Denn erwartet hatte Cerny etwas anderes: „Wir hatten damit gerechnet, dass die Ostertage und Öffnungen der Außenbereiche wieder zu einem Anfeuern der Pandemie führen könnten.“

Der Einzelhandel ist in der Schweiz schon seit März wieder geöffnet. Seither sind die Zahlen leicht gestiegen.
Der Einzelhandel ist in der Schweiz schon seit März wieder geöffnet. Seither sind die Zahlen leicht gestiegen. | Bild: Urs Flueeler

„Es gibt weiter guten Grund, verhalten optimistisch zu bleiben, was die Infektionslage in der Schweiz angeht“, drückt es Patrick Mathys, der Leiter der Abteilung Übertragbare Krankheiten beim Gesundheitsamt. Soll heißen: Auswirkungen der massiven Lockerungen sind zunächst nicht festzustellen.

Vorteil schlechtes Wetter?

Wie aber lässt sich die Entwicklung erklären? Der Vizepräsident der Covid-19-Task-Force des Landes, Urs Karrer, hat dafür selbst keine genaue. Möglicherweise haben das Wetter geholfen, sagt er. Auch die Frühlingsferien in den Schulen, die auf die zweite Monatshälfte des April fielen, könnten die Entwicklung begünstigt haben. Oder auch das häufigere Testen. „Wir untersuchen diese Faktoren“, so Karrer.

Ähnliches vermutet Cerny. Das eher regnerische Wetter in den vergangenen Wochen habe sicher dazu geführt, dass die „Terrassen kein Massenphänomen“ wurden.

Keine steigenden Infektionszahlen

Doch ein Blick auf die Entwicklung der Neuinfektionen seit März, als der Einzelhandel nach dem harten Lockdown während der zweiten Welle in der Schweiz wieder öffnen durfte, zeigt zunächst wieder leicht steigende Zahlen. Mitte April steigen sie wieder, bei den neuen Lockerungen ab 19. April stagnieren die Zahlen zunächst, dann beginnen sie zu sinken.

Zwar sind die Infektionszahlen in der Alpenrepublik nach wie vor hoch, zuletzt aber gesunken. Waren es noch vor einer Woche deutlich über 2000 Neuinfektionen, sind es zuletzt unter 1800. Der Reproduktionswert, also wie viele Menschen ein Infizierter ansteckt, ist unter den kritischen Wert von 1 gesunken: 100 Infizierte stecken demnach 93 andere Menschen an.

Wirkt der Lockdown noch nach?

„Das ist das Resultat des Lockdowns“, ist sich Virologe Cerny sicher. Auch deshalb warnt er vor allzu großer Euphorie und allzu leichtfertigen neuen Lockerungen: Die Pflicht zum Homeoffice, die Maskenpflicht und die weiterhin geschlossenen Innenräume von Restaurants und Bars und das Verbot von größeren Veranstaltungen „haben immer noch einen guten Einfluss“.

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Die verringerten Ansteckungen wirken sich auch auf die Sieben-Tage-Inzidenz aus, die nun bei 128,7 liegt, wenn auch in einzelnen Kantonen noch deutlich darüber, in Appenzell-Innerrhoden bei 223, im Kanton Uri sogar bei über 300. Nur fünf der 26 Kantone liegen unter dem Inzidenzwert von 100.

Grund zum Aufatmen gibt es dennoch nur bedingt. Zum einen, weil sich die Infektionszahlen schnell vervielfachen können, wie der Beginn der zweiten Welle in der Schweiz zeigte. Hier stieg die Zahl der Neuinfektionen innerhalb weniger Wochen auf 8000 pro Tag.

Intensivpatienten werden jünger

Und noch ein Faktor gibt Grund zum Nachdenken: Noch machen Covid-Patienten in der Schweiz mehr als 24 Prozent der Patienten auf Intensivstationen aus. Ihre Auslastung liegt bei 86 Prozent.

Waren in der zweiten Welle etwa im Kanton Zürich 15 Prozent der eingelieferten Covid-Patienten auf der Intensivstation, sind es inzwischen 30 Prozent. Die Intensivbetten aber sind dort besonders knapp. In fünf Kantonen sind sie IPS-Betten ausgelastet und müssen sogenannte Ad-Hoc-Betten zugestellt werden.

Gleichzeitig hat sich mittlerweile die Virusvariante B.1.1.7 durchgesetzt, sie führt nach Angaben von Karrer zu schwereren Verläufen: Laut Karrer führt es im Vergleich zum ursprünglichen Virus sogar 50 Prozent häufiger zum Tod. Weil zunehmend jüngere Menschen betroffen sind, dauert die Behandlung auf der Intensivstation länger.

Eine Pflegerin im Universitätsspital Bern der Insel Gruppe kümmert sich auf der Intensivstation um einen Corona-Patienten.
Eine Pflegerin im Universitätsspital Bern der Insel Gruppe kümmert sich auf der Intensivstation um einen Corona-Patienten. | Bild: Peter Schneider

So stieg die Zahl der unter 65-Jährigen, die wegen eines schweren Verlaufs der Infektion ins Krankenhaus mussten, von unter 30 Prozent in der zweiten Welle auf 50 Prozent der Intensivpatienten in der dritten Welle.

Die Krankheit grassiert in anderen Gruppen

Bei den Älteren über 75 ist dagegen ein deutlicher Rückgang der Infektionen und Todesfälle festzustellen – ein erster Impfeffekt: Waren während der zweiten Welle 50 Prozent der Intensivpatienten über 75, sind es inzwischen nur noch 25 Prozent. Doch das bedeutet: „Die Krankheitslast des Virus verteilt sich auf weniger Menschen“, erklärt Karrer. „Die Inzidenz ist in diesen Bevölkerungsgruppen deutlich höher.“

Inzwischen müssen sich die Krankenhäuser seinen Angaben nach darauf einstellen, dass mehr Menschen zwischen 40 und 60 Jahren in den Kliniken oder sogar in den Intensivstationen behandelt werden müssen. „Das wurde bislang in der Öffentlichkeit nicht genügend wahrgenommen“, mahnt der Vizepräsident der Taskforce. Das medizinische Personal sei permanent ausgelastet, „praktisch im Duracell-Modus“, umschreibt es Karrer.

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Cerny sieht das ein wenig gelassener. „Die Kapazitäten steigen wieder“, sagt er. Dass nun mehr jüngere Menschen betroffen seien, sei durch die bereist geimpfte ältere Bevölkerung bedingt.

Impfungen eher langsam

Die Zahl der Erstimpfungen in der Schweiz ist im Vergleich zu anderen Ländern geringer: 20,4 Prozent der Schweizer sind mindestens einfach geimpft, in Deutschland sind es über 31 Prozent. Vollständig geimpft sind 11 Prozent der Schweizer, in Deutschland 8,8 Prozent. (Stand 7. Mai)

Zwar ist das Impftempo in der Schweiz seit April gestiegen, etwa 50.000 Impfungen sind es pro Tag. Doch in diesem Tempo hätte die Schweiz bis zum Sommer noch keine Herdenimmunität von 70 Prozent erreicht.

Schweizer Impf-Sonderweg

Hinzu kommt: Bislang impft die Schweiz nur mit Biontech und Moderna, Astrazeneca hat noch keine Zulassung bekommen und soll nach dem Willen von Swissmedic erst Daten aus neuen Studien nachliefern, Johnson & Johnson hat sie erst beantragt.

„Die Impfkampagne ist derzeit der einzig realistische Ausweg aus dieser Situation“, macht Karrer deutlich. „Wir sind in einem Wettlauf mit der Zeit.“ Nun komme es nicht nur auf Schnelligkeit bei den Impfungen an, sondern auch auf die Impfbereitschaft und das Verhalten der Menschen an. Das klingt weder nach Euphorie ob der aktuellen Lockerungen noch nach weiteren Erleichterungen. Eher wie eine Warnung.

Der Virologe ist entspannt

Cerny sieht dafür keinen Grund. „Wenn man weiter vorsichtig öffnet, sollte es nicht zu einer größeren Belastung kommen“, ist er sich sicher. Ob die dritte Welle schon gebrochen ist, wagt er nicht zu sagen. „Dafür ist es noch zu früh, aber es sieht schon recht konsistent aus.“ Wenn man jetzt nicht allzu schnell öffne, könnten die Zahlen weiter sinken.