Auf den ersten Blick wirkt in dieser Stadt alles normal. Menschen gehen durch den Park, vorbei an Plakaten, die für Ausstellungen und Veranstaltungen werben. Im Park tummeln sich Jugendliche auf den Wiesen, die ältere Generation hat sich Stuhlkreise aus den grünen Parkstühlen zusammengestellt. Es ist ein herrlicher Frühlingstag in St. Gallen.

In der Stadt herrscht reger Betrieb, die Läden sind geöffnet, die Terrassen der Cafés sind voll besetzt. Masken trägt kaum einer, der da sitzt. Wüsste man nicht, dass eine Pandemie um sich greift, könnte man glauben, es habe Corona hier nie gegeben. Es ist Woche zwei der jüngsten Lockerungen in der Schweiz – und die Eidgenossen genießen ihre neuen Freiheiten in vollen Zügen, scheint es. Dabei liegt die Sieben-Tage-Inzidenz im Kanton bei 170 gemeldeten Infektionen pro 100.000 Einwohner, 23 Prozent höher als in der Vorwoche.

Im Park genießen die Menschen das Zusammensein: Bis zu 15 können sich gemeinsam draußen treffen. Eine Beschränkung auf Haushalte gibt es ...
Im Park genießen die Menschen das Zusammensein: Bis zu 15 können sich gemeinsam draußen treffen. Eine Beschränkung auf Haushalte gibt es nicht. | Bild: Moll, Mirjam

Training im Fitnessstudio

Das Fenster des Kieser-Training-Fitnessstudios an der Ecke des Parks ist sperrangelweit offen. Am Eingang steht ein Desinfektionsspender, am Boden kleben Aufkleber mit dem Schriftzug „Bitte Abstand halten“. Hier ist man spezialisiert auf rückenfreundliches Krafttraining. Ein paar wenige Menschen trainieren mit Maske an den Geräten. In Deutschland unvorstellbar – Sport in Innenräumen scheint derzeit außer Reichweite, schon draußen gibt es strenge Auflagen, wenn die Inzidenz über 100 liegt.

„Das ist ja fast schon Freiheitsberaubung“, findet Carina Bötschi, Leiterin des kleinen Studios im Herzen der Stadt. Aus ihren Worten klingt ein wenig Befremden über die vergleichsweise strengen Maßnahmen in Deutschland. Doch auch in der Schweiz geht es nicht ohne Auflagen: Alle 15 Minuten können bis zu vier Kunden ihr Training beginnen, die Obergrenze liegt bei 16.

Ein Gerät misst den CO2-Gehalt in der Luft, es wird immer wieder gelüftet, die Geräte desinfiziert. Der Trinkbrunnen ist gesperrt, in den eher kleinen Umkleiden dürfen sich aber bis zu sechs Kunden aufhalten.

Martin Reiser trainiert seit zwei Jahren regelmäßig im Fitnessstudio, zwei Mal die Woche kommt er normalerweise her – das war in ...
Martin Reiser trainiert seit zwei Jahren regelmäßig im Fitnessstudio, zwei Mal die Woche kommt er normalerweise her – das war in den letzten vier Monaten nicht möglich. | Bild: Moll, Mirjam

Die Termine zum Training sind buchbar über die Webseite oder per Telefon. Fast vier Monate lang war das Studio geschlossen. In der ersten Woche sei entsprechend viel los gewesen, sagt Bötschi. Aber wenn das Wetter so schön sei wie an diesem Tag, bleiben die Kunden auch nach langer Durststrecke dem Studio fern. Nicht so Martin Reiser. Der 67-Jährige ist froh, dass er wieder trainieren kann. Zwei Mal die Woche komme er her. „Die Schließung war nicht gut“, sagt der Rentner. Generell befürwortet er die Lockerungen in der Schweiz – die Rückkehr von ein bisschen Normalität. In seinen Worten schwingt ein wenig Skepsis mit, was die Maßnahmen überhaupt bringen sollen.

Ähnlich sieht es Kurt Zülig. „Wir sind bislang relativ gut gefahren mit den Öffnungen, aber auch mit den Schließungen“, sagt der 68-Jährige. „In den Ländern um uns herum herrschen strengere Regeln, aber ähnlich hohe Infektionszahlen.“ Er versteht nicht, „warum die Schweizer angeblich coronamüde sind“ und meint, dass die Eidgenossen doch noch vergleichsweise gut wegkommen sind.

Mancher Schweizer hat Zweifel

Doch es gibt auch Zweifel an den Lockerungen. Ein Mann mit Bart und Brille sitzt im Park. Auf die Lockerungen angesprochen, sagt Fabian Bischof, Gewerkschaftssekretär: „Ich habe da eher Bedenken, wenn man auf das restliche Europa blickt und wie sie mit der Pandemie umgehen“, erklärt er seine Haltung. Dinge wie eine Ausgangssperre empfinde er zwar als extrem, aber die Lockerungen der Schweiz, das könnte „ein Schuss sein, der nach hinten losgeht“.

Für Restaurantbetreiber biete die Möglichkeit von geöffneten Terrassen zudem keine Planungssicherheit. „Das Wetter ist ja noch recht unbeständig“, erklärt er. Die Küchen drohten auf ihren eingekauften Waren sitzenzubleiben. Doch auch der Gewerkschaftler gibt zu: „Das freut einen natürlich schon, dass wieder mehr möglich ist, dass es einen Aufwärtstrend gibt.“ Das könne sich aber auch schnell wieder ändern, fürchtet er.

Das Kunstmuseum in St. Gallen hat geöffnet. Ganz ohne Einschränkungen.
Das Kunstmuseum in St. Gallen hat geöffnet. Ganz ohne Einschränkungen. | Bild: Moll, Mirjam

Wenige Schritte weiter liegt das Kunstmuseum von St. Gallen, malerisch am Parkrand gelegen. Museen dürfen in der Schweiz schon seit Anfang März wieder öffnen. Doch die Coronapolitik ging auch an ihnen nicht spurlos vorbei. Im vergangenen Frühjahr mussten die Museen von Mitte März bis Mai schließen. Im Sommer waren sie zwar geöffnet, aber die internationale Kundschaft blieb aus, Vernissagen waren kaum planbar, Leihgaben wegen der eingeschränkten Logistik praktisch nicht zu organisieren. Ende Dezember mussten die Museen dann erneut schließen, bis ins Frühjahr hinein.

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Der Direktor des Museums, Roman Griesfelder, sieht Museen grundsätzlich als unkritisch, wegen der weitläufigen Räumlichkeiten. Offizielle Zahlen gebe es noch nicht, aber Griesfelder geht für das vergangene Jahr von 30 bis 40 Prozent weniger Besuchern aus.

„Von der Wiedereröffnung im März haben wir profitiert, das dürfte sogar der stärkste März seit Jahren sein“, ergänzt der Direktor. Das habe mehrere Gründe: Das schlechte Wetter einerseits, vor allem aber die mangelnden Alternativen. Freizeitmöglichkeiten gab es nicht, alles andere war zu. Viele Schweizer „haben uns so entdeckt“, so Griesfelder.

Museumsdirektor Roman Griesfelder musste im vergangenen Jahre Einbußen hinnehmen – dafür war der März für sein Museum mangels ...
Museumsdirektor Roman Griesfelder musste im vergangenen Jahre Einbußen hinnehmen – dafür war der März für sein Museum mangels Freizeitalternativen der besucherstärkste seit Jahren. | Bild: Moll, Mirjam

Persönlich sieht der Museumsdirektor die Lockerungen aber „ambivalent“. Einerseits sei es gut, den Menschen ein „Stück Normalität“ zurückzugeben. Andererseits seien 200.000 Ausflügler pro Tag in Zürich „etwas, das wir uns nicht leisten können, damit riskieren wir den Sommer“, fürchtet er.

Gregor Brugnoni hat das Museum an diesem Mittag für sich. Er muss trotzdem Maske tragen, sie ist an der Nase schon ein wenig dünner von der Abnutzung geworden. Brugnoni geht normalerweise regelmäßig in Museen, macht Tagesausflüge kreuz und quer durch die Schweiz. Die Pandemie hat dem 63-Jährigen, der sich vier Jahre früher aus dem Berufsleben verabschiedete, einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Gregor Brugnoni geht gerne in Museen. Mit den zusätzlichen Lockerungen für Restaurants und Cafés sind Ausflüge in andere Städte für ihn ...
Gregor Brugnoni geht gerne in Museen. Mit den zusätzlichen Lockerungen für Restaurants und Cafés sind Ausflüge in andere Städte für ihn wieder attraktiver geworden. | Bild: Moll, Mirjam

„Ich bin weniger unterwegs“, sagt er. Der Mann aus dem Kanton Solothurn hofft auf die Impfungen, hofft, dass die Normalität zurückkehrt. Später wird er noch den Stiftbezirk der Stadt um das Kloster besichtigen, vielleicht eine Kleinigkeit essen auf einer der Terrassen, bevor er mit dem Zug nach Olten zurückkehrt. Dort macht sich die Pandemie dann doch bemerkbar: „Normalerweise sind die Züge voll von Pendlern“, berichtet er. In diesen Tagen, wo schweizweit Homeofficepflicht herrscht, habe er den Zug praktisch für sich alleine, erzählt er.

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Im Stadtkern herrscht um die Mittagszeit bereits reges Treiben. Die Terrasse des Burgerrestaurants „Hans im Glück“ ist voll besetzt. Frederik Boschur sitzt mit ein paar Freunden an einem Tisch, keiner trägt Maske. Die Schließungen fand der 21-jährige Lehrling „nicht so schlimm“, es gab ja Lieferservice und die Möglichkeit sich privat zu treffen. Boschur genießt es, wieder auf der Terrasse sitzen zu können: „Das ist schon was Besonderes, richtiges Sommerfeeling“, sagt er.

Sonja Dudler genießt mit ihrem Vater Hans-Peter Dudler die Mittagspause auf der Terrasse eines Wirtshauses im Stadtkern von St. Gallen.
Sonja Dudler genießt mit ihrem Vater Hans-Peter Dudler die Mittagspause auf der Terrasse eines Wirtshauses im Stadtkern von St. Gallen. | Bild: Moll, Mirjam

Ein paar Tische weiter sitzt Sonja Dudler mit ihrem Vater Hans-Peter. Die 24-Jährige sieht die Lockerungen zwiegespalten: „Im ersten Moment habe ich mich gefreut, aber als ich am Wochenende die randvollen Terrassen gesehen habe, kamen mir schon Zweifel“, gesteht sie. Auch Vater Dudler sagt: „Ich wäre nicht traurig gewesen, wenn im Mai noch alles zu gewesen wäre.“ Der 70-Jährige ist bereits geimpft, arbeitet noch selbstständig in einem Wohnheim.

In den kleinen Gassen rings herum sind auch längst die Terrassen der Cafés besetzt. Bei der „Art of Cake Factory“ bedient Sonja Meier die vier Tische draußen alleine. „Das ist alles sehr wetterabhängig“, sagt sie auf die Frage, wie gut das Angebot angenommen werde. „Aber die Leute sind froh, dass das wieder möglich ist“, fügt sie hinzu.

Draußen sitzt Sarah Bislin. Die Lehrerin genießt zum ersten Mal seit langem einen Kaffee in der Innenstadt. „Ich fühle mich sicher mit dem Abstand“, sagt sie, ergänzt aber, dass sie bei der Wahl des Cafés darauf achte, wie dicht es besetzt sei. Für das Gespräch trägt sie Maske, nimmt sie nur ab für das Foto und um zwischendurch einen Schluck Kaffee zu trinken.

Sarah Bislin sitzt in der „Art of Cake Factory“ im Zentrum von St. Gallen und genießt ihren ersten Kaffee auf einer Terrasse ...
Sarah Bislin sitzt in der „Art of Cake Factory“ im Zentrum von St. Gallen und genießt ihren ersten Kaffee auf einer Terrasse seit langem | Bild: Moll, Mirjam

„Ich habe schon Bedenken“, sagt sie rundheraus. „Das liegt aber eher an dem Verhalten der Menschen.“ Wenn man so gesellig beisammen sitze, rücke Corona in den Hintergrund, manch einer habe dann keine „Disziplin“ mehr, findet sie.

Die geöffneten Schulen sind aus ihrer Sicht aber kein Problem. In der Schweiz waren die Schulen während der zweiten Welle durchgängig geöffnet. Ansteckungen habe es zwar gegeben: „Aber meist nicht in der Schule“, sagt die Lehrerin. Es seien vielmehr die privaten Kontakte, außerhalb des Unterrichts, bei denen Regeln und Vorschriften weniger beachtet werden.

Stufenplan für die Rückkehr zur Normalität

Ob die derzeitigen Maßnahmen ausreichen, um die Infektionszahlen im Zaum zu halten, wird sich erst in den kommenden Wochen zeigen. Dafür spricht, dass die Zahl der Krankenhauseinlieferungen zuletzt stetig sank, dagegen, dass die Zahl der Neuinfektionen weiter vergleichsweise hoch ist, zuletzt kamen innerhalb eines Tages weit über 2000 Neuinfektionen hinzu. Immerhin haben inzwischen knapp 2,5 Millionen der Schweizer, also etwa ein Viertel der Bevölkerung, eine Erstimpfung erhalten.

Der Stufenplan des Bundesrats sieht vor, dass mit steigender Impfzahl auch höhere Inzidenzen möglich sein sollen, ohne dass Lockerungen zurückgenommen werden müssen. Weitere Öffnungsschritte aber wird es vor Ende Mai nicht geben, betonte Gesundheitsminister Alain Berset zuletzt. Geht die Impfstrategie der Schweiz auf, könnten bis zum Sommer alle geimpft sein, die das wollen. Spätestens dann sollen Einschränkungen nicht mehr nötig sein, heißt es in dem Plan. Es klingt wie eine Verheißung.