„Ständige Angst, Verlust und Unsicherheit“ – mit diesen Worten beschreibt die palästinensische Schriftstellerin und Frauenaktivistin Najwa Juma den Alltag ihrer Familie in Gaza: Verletzte und vertriebene Verwandte, keine Grundversorgung, ständige Anspannung.

Die emotionalen Schilderungen sind der Hintergrund einer weltweiten Auseinandersetzung, die mit großer Härte auch in Deutschland geführt wird: Soll Palästina als souveräner Staat anerkannt werden, wie es in 157 der 193 UN-Mitgliedsstaaten der Fall ist?

Deutschland erkennt Palästina nicht als Staat an

Darunter sind seit Kurzem auch Großbritannien oder Frankreich. Deutschland nicht, auch wenn Außenminister Johann Wadephul (CDU) zuletzt die Anerkennung in Aussicht stellte, am Ende eines langen Prozesses. „In ganz Gaza erleben die Menschen eine Hölle auf Erden“, sagte er während seines ersten Besuchs bei den Vereinten Nationen.

Für Najwa Juma, die 2022 über ein Jean-Jacques-Rousseau-Stipendium nach Stuttgart kam und seither in Deutschland lebt, sind die Anerkennungen ein „wichtiger moralischer und diplomatischer Schritt“.

Najwa Juma ist palästinensische Schriftstellerin und Frauenaktivistin und lebt seit einem Stipendium in Stuttgart im Jahr 2022 in ...
Najwa Juma ist palästinensische Schriftstellerin und Frauenaktivistin und lebt seit einem Stipendium in Stuttgart im Jahr 2022 in Deutschland. | Bild: Najwa Juma

Sie empfindet den Akt als eine Bestätigung des Rechts ihres Volkes auf Selbstbestimmung nach jahrzehntelanger Besatzung.

Anerkennung als Symbol, erwartet werden wirksame Schritte

Doch die Geste allein, warnt sie, reiche nicht aus. Ohne konkreten politischen Druck, um die Realität der Menschen vor Ort zu verändern, würde sich eine Anerkennung „hohl anfühlen“.

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Die Forderung nach spürbaren Konsequenzen wird von pro-palästinensischen Aktivisten in der Region geteilt. Die Gruppen „Rettet Gaza Konstanz“ und „Kollektiv Jüdische Solidarität“ gehen noch weiter. In einer gemeinsamen Stellungnahme werfen sie der Bundesregierung vor, sich durch ihre „bedingungslose politische und militärische Unterstützung Israels“ zum „Komplizen eines Völkermords“ zu machen.

Die jetzt erfolgten Anerkennungen begrüßen sie, „auch wenn sie rein symbolischer Natur sind“. Viel wichtiger seien konkrete Maßnahmen, unter anderem ein sofortiges Waffenembargo gegen Israel sowie Sanktionen.

Aktivisten fordern Ende des „Völkermords in Gaza“

Von der von ihr scharf kritisierten deutschen Regierung erwarten sie deutlich mehr politischen Druck auf Israel und nicht zuletzt ebenfalls die „unverzügliche“ Anerkennung Palästinas. Aktuell stehe all dies im Hintergrund der jetzigen Priorität: „Der Völkermord in Gaza muss sofort beendet werden.“

Vertreter der Initiative „Rettet Gaza“ bei einer Spontan-Demo im Mai 2024 auf der Marktstätte in Konstanz.
Vertreter der Initiative „Rettet Gaza“ bei einer Spontan-Demo im Mai 2024 auf der Marktstätte in Konstanz. | Bild: Initiative "Rettet Gaza"

Laut jüngsten Zahlen der UN wurden im Gazastreifen seit Oktober 2023 mehr als 65.000 Menschen getötet, etwa 80 Prozent aller Gebäude sind zerstört, Straßen und Leitungen sind schwer beschädigt. Eine unabhängige Kommission des UN-Menschenrechtsrats bestätigte: Israel begehe einen Völkermord an den Palästinensern in Gaza.

Sie selbst würden in diesem Zusammenhang nie von einem Völkermord sprechen. Dass das Leid in Gaza enden muss, unterschreiben jedoch auch jüdische Menschen aus der Region in Gesprächen mit dem SÜDKURIER. Dann enden die Gemeinsamkeiten.

Kritik jüdischer Gemeinschaft: Bestätigung für Hamas

Die Anerkennung Palästinas sei kein Schritt in Richtung Frieden, sondern ein fatales Signal, erklärt Rami Suliman, Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinschaft (IRG) Baden und Mitglied im Direktorium des Zentralrats der Juden in Deutschland.

Rami Suliman ist Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden.
Rami Suliman ist Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden. | Bild: Doro Treut-Amar

„Damit setzen insbesondere die europäischen Staaten ein sehr schlechtes Zeichen, die Terroristen der Hamas dürfen sich bejubelt fühlen für die Grausamkeiten des 7. Oktober 2023.“

Neben einem sofortigen Ende des Krieges wünsche er sich auch eine Zwei-Staaten-Lösung. „Aber nicht jetzt, nicht, solange die Hamas politisch oder militärisch in Gaza agiert. Diese Leute werden nie zwei Staaten friedlich nebeneinander akzeptieren, sie wollen Israel von der Landkarte löschen.“

Zwei-Staaten-Lösung nur ohne Hamas-Beteiligung

Diese Haltung teilt Ruth Frenk, Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Bodensee (DIG) aus Konstanz. Für sie ist die Anerkennung „kontraproduktiv“, da es kein einheitliches Palästina gebe, sondern ein von der Hamas beherrschtes Gaza und ein von einer schwachen PLO geführtes Westjordanland.

Ruth Frenk (links) ist Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Bodensee (DIG) und lebt in Konstanz. Najwa Juma ist ...
Ruth Frenk (links) ist Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Bodensee (DIG) und lebt in Konstanz. Najwa Juma ist palästinensische Schriftstellerin seit 2022 in Deutschland. | Bild: Förderverein der Gesangsklasse Ruth Frenk/Najwa Juma

Suliman, der betont, kein Befürworter der Regierung um Premierminister Benjamin Netanjahu zu sein, kritisiert eine Doppelmoral: „Warum üben die westlichen Länder nicht denselben Druck auf die Hamas aus wie auf Israel? Warum wird nicht auf eine Freilassung der Geiseln gedrängt? Davon höre ich wenig.“

Er vermutet, die Bundesregierung scheue aus Sorge vor massiver Stimmungsmache von islamistischer sowie links- oder rechtsextremer Seite davor zurück.

Aus wahltaktischen Gründen hätten jetzt auch Großbritannien und Frankreich Palästina anerkannt. Die politischen Verhältnisse beider Länder waren zuletzt wechselhaft bis instabil, es kam zu Unruhen in beiden Ländern.

Wachsende Angst bei jüdischen Menschen in der Region

Über die politische Debatte hinaus hat der Konflikt längst den Alltag von Juden in Deutschland erreicht. Die Angst wachse, berichtet Rami Suliman. „Wir haben Mitglieder in den Gemeinden, die keine Kippa mehr tragen wollen, die beschimpft werden, die inzwischen sogar keine Gemeindepost von uns erhalten wollen, um nicht als Juden erkannt zu werden.“

Es ist eine Entwicklung, die ihn persönlich tief trifft. „Ich selbst lebe jetzt seit 1979 hier in Deutschland und habe immer stolz gesagt, dass ich Israeli bin. Inzwischen bin ich da manchmal vorsichtig geworden und ich bin kein ängstlicher Mensch.“

Diese wachsende Unsicherheit spiegelt auch Ruth Frenk in Konstanz wider, wenn sie berichtet, die sich manche Juden stellten: „Müssen wir Deutschland wieder verlassen, wie in den 30er-Jahren?“

Wenig Aussicht auf regionalen Dialog

Lassen sich denn vor Ort die Gräben zwischen beiden Welten etwas zuschütten? Nicht wirklich. Die Aktivisten von „Rettet Gaza“ und „Kollektiv Jüdische Solidarität“ aus Konstanz erklären, dass sie bei ihren Veranstaltungen intensive Gespräche führen, um der Erzählung von Juden gegen Palästinenser entgegenzuwirken.

Aktive Gespräche mit organisierten jüdischen Einrichtungen wie der Synagogengemeinde aus Konstanz oder der DIG wollen sie nicht verfolgen. Das habe nichts mit den dort agierenden Menschen zu tun, sondern damit, dass in diesen Institutionen das Leid der Palästinenser keine Rolle zu spielen scheine. „Dieses Schweigen verstehen wir als eine Entmenschlichung, die für uns die Grundvoraussetzung für einen ehrlichen Dialog zerstört.“

Ihre Erwartung: Es kann dann gesprochen werden, wenn die israelischen Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen anerkannt werden.