Es ist Tag 133 des Krieges im Nahen Osten und derselbe, an dem Nadine Kruschbersky in ihrer Küche in Konstanz sitzt.

Vor ihr eine Kanne Schwarztee, daneben eine Gedankenskizze, die sie auf Papier gezeichnet hat. Der Konflikt ist vielschichtig, sagt sie, und Nadine Kruschbersky geht die Dinge gern strukturiert an.

Die 40-Jährige, dunkles langes Haar, braune Augen, ist Deutsch-Palästinenserin, sie findet: „Solidarisch mit Israel zu sein und auf die Einhaltung des Völkerrechts in Gaza zu dringen, das widerspricht sich nicht.“

Viele Palästinenser gelten als staatenlos

Wie sie leben in Deutschland schätzungsweise 175.000 bis 225.000 Menschen mit palästinensischem Hintergrund. Eine genaue Zahl zu bekommen, ist schwierig, denn Palästina wird von den Vereinten Nationen nicht als Staat anerkannt.

Viele Palästinenser gelten als staatenlos, einige besitzen die Nationalität eines anderen Landes. Andere wiederum haben mehrere Wurzeln, so wie Nadine Kruschbersky. Ihre Mutter stammt aus Konstanz, ihr Vater aus einem kleinen Ort in der Nähe von Jerusalem, aus dem er 1967 vertrieben wurde.

Nadine Kruschbersky in ihrem Wohnzimmer im Konstanz. Sie ist Deutsch-Palästinenserin – und stolz auf ihre Wurzeln.
Nadine Kruschbersky in ihrem Wohnzimmer im Konstanz. Sie ist Deutsch-Palästinenserin – und stolz auf ihre Wurzeln. | Bild: Najwa Juma

Für sie hat sich seit Oktober, seit dem Anschlag der Hamas auf Israel, einiges gewandelt. Seit dieser Zeit fühlen sich Palästinenser hierzulande oft missverstanden und verdächtigt, aber auch ungesehen oder überhört.

Manche fürchten, allein auf das Leid ihrer Familien im Gazastreifen hinzuweisen, könnte in Deutschland als antisemitisch gewertet werden. Es ist daher nicht leicht, jemanden aufzuspüren, der sich öffentlich äußern möchte. Wie findet man die richtigen Worte?

7. Oktober markiert Zäsur für Nahen Osten

Nadine Kruschbersky will es versuchen, sie beugt sich vor.

Vor dem 7. Oktober, sagt sie, sei sie eine stolze Deutsch-Palästinenserin gewesen. „Ich habe es als bestimmenden Teil meiner Identität gesehen, dass ich diese beiden reichen Kulturen in mir trage, die es mir ermöglichen, einen unterschiedlichen Blick auf die Welt zu richten.“

Das Deutschsein mit der Freiheit und einem Verständnis dafür, wie viel dieses Privileg wert ist. Demgegenüber diese lange, vielschichtige Kultur des Arabischen, und das Volk der Palästinenser, das nach wie vor seinen Platz in dieser Welt sucht.

Auf diese Wurzeln ist Nadine Kruschbersky auch heute noch stolz, auch nach dem 7. Oktober. Allerdings hat dieses Datum viel an der Art und Weise geändert, wie sie glaubt, dass andere Menschen sie wahrnehmen.

Dass jener Oktobertag eine Zäsur für das Leben im Nahen Osten markiert, ist unstrittig. Damals überfielen Terroristen der Hamas und anderer Gruppen den Süden Israels und schlachteten 1200 Menschen ab, 250 weitere verschleppten sie in den Gazastreifen.

Laut Hamas mehr als 31.000 Tote

Ein Massaker, schlimmste Verbrechen, die gleichzeitig angekündigt hätten, dass etwas noch Drastischeres passieren würde, sagt Nadine Kruschbersky. Denn mit Benjamin Netanjahu als Präsident ist eine nationalistische Regierung in Israel an der Macht, die auf den Schock der Isrealis mit allergrößter Härte reagieren würde, um die Hamas ein für alle Mal unschädlich zu machen.

Die Folgen dessen bekommen auch Kinder und Frauen in dem schmalen Küstengebiet zu spüren. Denn Israels Raketen, die Schüsse treffen auch sie – zumal es eine zynische Strategie der Terroristen ist, sich unter die Unschuldigen zu mischen, um sich zu verstecken.

Nach Angaben der Gesundheitsbehörde in Gaza, die von der Hamas kontrolliert wird, sind seit Oktober mehr als 31.000 Palästinenser gestorben, darunter sowohl Kämpfer als auch Zivilisten. Israel hält die Zahl für übertrieben, tatsächlich kann sie nicht unabhängig überprüft werden. Die BBC geht indes davon aus, dass mindestens die Hälfte aller Häuser zerstört sind. Laut den Vereinten Nationen sind 1,7 Millionen Menschen auf der Flucht.

Najwa Juma (Zweite von rechts) mit ihren Kindern Layan, Nissan, Ahmed, Omar und Katze Luna.
Najwa Juma (Zweite von rechts) mit ihren Kindern Layan, Nissan, Ahmed, Omar und Katze Luna. | Bild: Najwa Juma

Auch die Kinder von Najwa Juma. Als Israel ankündigte, die Strukturen des Terrors ausmerzen zu wollen, lebten sie im Norden des Gazastreifens. Da war ihre Mutter schon in Deutschland. Denn die Palästinenserin war im Mai 2022 als Stipendiatin für Autoren aus Konfliktregionen nach Stuttgart gekommen. Najwa Juma ist in ihrer Heimat eine bekannte Schriftstellerin, jetzt bittet sie um Asyl, bisher vergebens. Ihr Antrag sei abgewiesen worden, erzählt sie. Auch wenn ihr Anwalt Einspruch eingelegt habe – noch könnte ihr die Abschiebung nach Ägypten drohen.

„Ich suchte in Deutschland die Freiheit als Frau und Autorin.“ Nun sei sie gefangen. Denn ohne Papiere, die sie abgeben musste, kann sie nicht zurück – ihre Familie nicht aus Gaza heraus. Dafür fehlt das Geld.

Najwa Juma: „Meine Kinder leben in Zelten“

Die 45-Jährige zeigt ein Bild auf ihrem Handy: mehrere Quadratmeter Trümmerfeld, die einmal ihr Haus gewesen sein sollen. Seit dem 13. Oktober musste ihre Familie, der Jüngste gerade neun, von einem Ort zum nächsten ziehen. Erst ins Zentrum, wo ihr Mann blieb, um seiner Familie zu helfen. Die Kinder seien mit dem anderen Teil der Familie weiter nach Khan Younis gezogen.

Dann wurden sie nach Al Mawasi im Westen evakuiert. Ihr Mann habe die Kinder zurück ins Zentrum geholt. Dann Rafah, zurück ins Zentrum, wo sie sich auch momentan aufhielten, sagt die Mutter. „Sie leben in Zelten.“

Ein Trümmerfeld: das Haus von Najwa Juma und ihrer Familie im Norden des Gazastreifens ist zerstört.
Ein Trümmerfeld: das Haus von Najwa Juma und ihrer Familie im Norden des Gazastreifens ist zerstört. | Bild: Najwa Juma

Die Autorin erzählt das mit leiser Stimme, manchmal weint sie. „Jeden Tag höre ich vom Tod eines Freundes und seiner Familie.“ Sie senkt den Kopf. Es sind Geschichten, von denen es in diesen Tagen zahlreiche ähnliche im Nahen Osten gibt. Auch Nadine Kruschbersky kommt nicht umhin, sie sich immer wieder anzuhören, sich die Bilder aus Gaza immer wieder anzusehen „Meine Verantwortung ist, nicht wegzuschauen, eine Zeugin zu sein, zu dokumentieren und andere darüber zu informieren, was da gerade passiert.“

Das ist manchmal gar nicht so einfach. „Wenn ich anspreche, dass ich Deutsch-Palästinenserin bin, dann warte ich erstmal ab, wie die Menschen darauf reagieren“, erklärt die Konstanzerin. Eigentlich erwarte sie, dass man sie fragt.

Wie ist es gerade für dich?

Wie geht es deiner Familie?

Wie ist die Situation vor Ort?

Solche Fragen kommen aber nicht, sagt die Mutter eines dreijährigen Sohnes. Stattdessen: Stille. Vielleicht weil ihre Gegenüber das Gefühl haben, eine Seite einnehmen zu müssen? Für Israel, gegen Palästina? Vielleicht aber auch, weil sie nichts Falsches sagen wollen.

Nadine Kruschbersky wünscht sich Frieden

Nadine Kruschbersky kann verstehen, dass ihr die Leute verhalten begegnen, ein bisschen so wie Rehe im Scheinwerferlicht. Schließlich ist auch sie wie die meisten in Deutschland groß geworden mit einem „Nie wieder“, Ausrufezeichen. „Wir sind verantwortlich für den Holocaust“, sagt sie. „Ich habe eine Verantwortung als Deutsche.“

Trotzdem. Dieses Nichtssagenwollen sei manchmal beklemmend, manchmal sogar ohrenbetäubend, die 40-Jährige verschränkt die Arme. Es mache den Konflikt schließlich nicht einfacher, wenn man nicht darüber spricht.

Leben vor und nach dem 7. Oktober im Gazastreifen: Omar, der jüngste Sohn von Najwa Juma, feiert seinen Geburtstag zu Hause – und ...
Leben vor und nach dem 7. Oktober im Gazastreifen: Omar, der jüngste Sohn von Najwa Juma, feiert seinen Geburtstag zu Hause – und einige Jahre später in einem Camp für vertriebene Palästinenser. Jetzt ist er neun. | Bild: Najwa Juma

Sie trägt ein weißes T-Shirt mit einem Friedenszeichen über der Brust. Frieden, das sei auch das, was sie sich für den Nahen Osten wünsche. „Es ist klar, dass die Hamas zur Rechenschaft gezogen werden muss. Das sind Kriegsverbrecher, die die Auslöschung der Israelis anstreben.“ Nadine Kruschbersky sagt aber auch: „Der Terror ist nicht im luftleeren Raum entstanden.“ Es gibt Zusammenhänge, einen Kontext.

In der derzeitigen israelischen Regierung etwa sitzen Politiker wie Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir, der vor einiger Zeit dazu aufgerufen hatte, ein palästinensisches Dorf auszuradieren. Er würde am liebsten alle Siedler mit Waffen ausrüsten, Israel das Westjordanland einverleiben und die Palästinenser in die arabischen Nachbarstaaten vertreiben.

Gazastreifen: Gravierend ist die Lage im Norden

Wie kann es so Frieden geben? Eine Zukunft? Wenn sich der Hass auf beiden Seiten derart kultiviert? Wenn Schulen, Krankenhäuser, Altenheime, Sportplätze, Theater in Gaza in sich zusammenfallen? Najwa Juma weiß es nicht. „Gaza ist kein Ort zum Leben mehr.“ Ihre Kinder, sagt sie, haben kaum Wasser. Sie sammeln Plastikflaschen, um Feuer zu machen.

Sie haben keine Kleidung, bis auf die, die sie am Körper tragen, und selbst das reiche nicht. „Meine beiden Großen teilen sich ein Paar Schuhe und tragen es abwechselnd.“

Während Israels Armee den größten Tunnel der Hamas zerstört haben will, werfen die Vereinten Nationen dem Land ein gezieltes Aushungern der Menschen im Land vor. Besonders gravierend ist die Lage im Norden des Küstengebiets, wo es am Nötigsten fehlt. Radioberichten zufolge essen Menschen hier die Blätter von den Bäumen und Tierfutter. Netanjahu aber treibt die Bodenoffensive in Gaza weiter voran, wahrscheinlich auch während des Ramadan.

Leben in Zelten im Gazastreifen: Kinder in einem Camp in Deir Al Balah halten ihre selbstgemalten Bilder in die Luft.
Leben in Zelten im Gazastreifen: Kinder in einem Camp in Deir Al Balah halten ihre selbstgemalten Bilder in die Luft. | Bild: Najwa Juma

Die Offensive einer Armee, die sich für die „moralischste der Welt“ hält, wie auch Netanjahu immer wieder betont. In Videos aus Gaza, die im Internet kursieren, offenbaren Soldaten aber eine Seite, die nicht zu diesem Selbstverständnis passen will. Sie stimmen fremdenfeindliche Lieder an, plündern Geschäfte, werfen selbstgebaute Bomben auf Moscheen. Wie geht das zusammen, fragt sich Nadine Kruschbersky. „Das versuche ich, zu verstehen.“ Israel selbst hat angekündigt, jeden einzelnen Fall prüfen zu wollen.

Ein Friedensplan für die Konfliktregion bleibt indes ein Traum für diejenigen, die ihn sich wünschen, die Idee der Zweistaatenlösung verkommt zur leeren Phrase. Tatsächlich rückt Israel, zumindest der jüdische Teil der Bevölkerung, seit dem Angriff der Hamas immer weiter nach rechts.

Ministerpräsident Netanjahu hat wiederholt erklärt, keinen palästinensischen Staat zu wollen – womit er die Meinung der meisten widerspiegelt, wie Umfragen zeigen. Zu frisch ist die Krise, die auch innerhalb des Staates als existenziell wahrgenommen wird.

Länder kritisieren Israel für seine Vehemenz

Inzwischen kritisieren immer mehr Länder die Vehemenz, mit der das Land seine Militärmission im Gazastreifen vorantreibt. Deutschland dagegen blieb lange stumm. SPD-Außenpolitiker Michael Roth befand kurz nach dem Terroranschlag der Hamas sogar: „Wir müssen jetzt Israel freie Hand lassen.“ Erst später schlug die Politik auch mahnende Töne an.

Die grüne Außenministerin Annalena Baerbock bekräftigt immer wieder, Israel müsse dringend mehr humanitäre Hilfe in das Küstengebiet lassen. Auch Parteikollege und Vizekanzler Robert Habeck appellierte unlängst wieder an die israelische Regierung, ihr Vorgehen endlich zu ändern.

Die Töchter von Najwa Juma – hier Layan – versuchen, den Kindern im Camp etwas Freude zu bringen.
Die Töchter von Najwa Juma – hier Layan – versuchen, den Kindern im Camp etwas Freude zu bringen. | Bild: Najwa Juma

Das sei einerseits begrüßenswert, sagt Nadine Kruschbersky. Auf der anderen Seite aber sei es traurig, „weil die Brutalität mittlerweile so groß geworden ist, dass es anders kaum noch ertragbar wäre“. Im Grunde genommen bleibt es bei verbalen Protesten und diplomatischem Druck – einem Rufen nach Waffenruhe und Verhandlungen. Für die Bevölkerung in Gaza hat das bisher noch wenig gebracht.

Die Deutsch-Palästinenserin will sich deshalb auf andere Weise nützlich machen. Sie sucht den Dialog mit Menschen. Mit ihrem Frankfurter Verein „Über den Tellerrand“ fördert sie schon seit 2015 interkulturelle Begegnungen und Integration.

Das könnte Sie auch interessieren

Die 40-Jährige, die in der Finanzbranche arbeitet, hat eine Fundraising-Aktion ins Leben gerufen und unterstützt Organisationen, die humanitäre Hilfe direkt in Gaza oder für Palästinenser leistet, die vom Krieg betroffen sind. Sie engagiert sich außerdem für das Konstanzer Aktionsbündnis „Rettet Gaza“.

Und ihre Hoffnung bleibt: dass Israelis und Palästinenser irgendwann friedlich koexistieren können. Dieser Gedanke scheint gerade weit weg, aber auch Najwa Juma trägt ihn ganz tief in sich. Doch angesichts dieser Gewalt? Man bräuchte schon ein Wunder, sagt sie. Bis es soweit ist, schreibt die Autorin über das, was sie erlebt und gesehen hat. Über ihre Heimat, Palästina. Das sei ihre Form von Widerstand, sagt sie.