Von innen erinnert es an ein Schullandheim. Karg die Zimmer, mal unordentlich, mal miefig. Weiter oben geordneter, persönlicher: ein Regal mit Büchern, ein Foto an der Wand. Draußen ein Beachvolleyballfeld, drinnen ein Raucherraum. Hohe Zäune umschließen das Haus, aber ohne Stacheldraht.
Wer hinein will, muss durch eine schwere Tür. Kameras in jeder Ecke, kein Winkel bleibt verborgen. Wer hier lebt, wird gesehen. Wer hier arbeitet, trägt Schlüssel an Kabelschnüren, ein Telefon am Gürtel. Waffen gibt es nicht. Sie müssen aufmerksam sein, jederzeit bereit. Im Stützpunkt summen fast ein Dutzend Monitore. Sie zeichnen nichts auf, sie dienen allein der Reaktion. Aber immer sitzt jemand davor.

Zentrum für Psychiatrie, Gemeinde Reichenau, Haus 9, Station 71. Hier wohnen Menschen mit verschiedenen Diagnosen, untergebracht nach Paragraf 63 oder 64 Strafgesetzbuch. Manche seit Jahren, manche mit ersten Lockerungen – Spaziergänge, einfache Arbeitseinsätze draußen. Andere bleiben, weil das Leben außerhalb sie überfordert. Normalerweise bleiben die Türen verschlossen. Diesmal durfte der SÜDKURIER hinein – und bekam einen Einblick in den Maßregelvollzug, der sonst verborgen bleibt.
Wer hier untergebracht ist
„Der Paragraf 63 ist keine Strafe“, sagt Jan Bulla, der Ärztliche Direktor der Forensik Reichenau. „Er bedeutet, dass jemand krank ist und im Zustand der Schuldunfähigkeit gehandelt hat. Aber weil von ihm Gefahr ausgehen kann, braucht es Behandlung unter gesicherten Bedingungen. Das kann Jahre dauern.“
Neben diesen Patienten gibt es auch die Unterbringungen nach Paragraf 64: suchtkranke Straftäter, die ihre Strafe nicht im Gefängnis verbüßen, sondern eine Therapie absolvieren. Für beide Gruppen gilt: Behandlung statt Strafe.
Viele kennt er schon aus der allgemeinen Psychiatrie. „Es sind häufig sogenannte Drehtür-Behandlungen: Sie werden entlassen, setzen Medikamente ab, erleiden Rückfälle – und wenn es dabei zu Straftaten kommt, führt das zur forensischen Unterbringung.“ Typisch sei eine Psychose, verbunden mit einer Körperverletzung. „Sexualstraftäter sind bei uns die Ausnahme“, sagt Bulla.

Von Station 70 auf die 71
Wer neu kommt, landet zuerst auf Station 70. Hochgesichert. Dort prüfen die Ärzte: Wie reagiert jemand auf Medikamente, wie stabil ist er, welche Risiken bestehen? Erst danach, wenn ein rechtskräftiges Urteil vorliegt oder sich jemand zuverlässig zeigt, geht es weiter auf die 71. Dort beginnt die eigentliche Therapie.

„Wir haben mehrere Regeln, die das Zusammenleben auf der Station steuern“, sagt Soraya Hartmann, die Stationsleiterin. Die Hausordnung legt den Umgang miteinander fest und bestimmt zugleich die Wochenstruktur: feste Zeiten für Mahlzeiten, Gruppen, Freizeit. „Das ist das Grundgerüst“, sagt sie. Ergänzt werde es durch individuelle Elemente, bis am Ende ein kompletter Wochenplan für jeden Patienten entstehe.
Die Morgenrunde um acht
Jeden Tag um acht. Alle sitzen zusammen, dreißig Patienten auf drei Wohnbereiche verteilt. „Da sprechen wir über Schlaf und Stimmung, organisieren den Tag, klären wichtige Themen oder Terminverschiebungen – wir wollen hier möglichst transparent sein“, sagt Hartmann. Manche nutzen die Runde, um zu schimpfen: über das Essen, über Hygiene. Reibung bleibt nicht aus.

Die Hausordnung ist mehr als Papier. Sie bestimmt den Alltag, gibt Struktur: Sport, Kunst- oder Musiktherapie, Arbeit in den Werkstätten, Gespräche mit Therapeuten. „Viele Menschen draußen denken, wir machen hier nur schöne Aktivitäten und die Patienten müssten nichts tun“, sagt Hartmann. „Das Gegenteil ist der Fall. Alles ist strukturiert und darauf angelegt, dass die Patienten lernen, sich wieder in einen Alltag einzufügen.“ Dazu gehören auch Arbeitstherapien – Holzwerkstatt, Gartenbau, einfache Tätigkeiten.
Wann es gefährlich wird
Wo Menschen dicht beieinander wohnen, kommt es zu Streit. „Zwei bis drei größere im Monat“, sagt Hartmann. „Oft wegen banaler Dinge – eine verschwundene Fernbedienung, Streit um den Fernseher.“ Immer ist eine Pflegekraft im Haus, sichtbar in den Gemeinschaftsräumen. „Wir müssen besonders auf schwächere Patienten achten, damit es nicht zu Unterdrückung kommt. Das gibt es in Gruppen, und wir greifen sofort ein.“

Massenschlägereien wie im Film gebe es nicht, betont Bulla. „Dass zwei Patienten mit Fäusten aufeinander losgehen, passiert in der gesamten Klinik nur wenige Male im Jahr.“ Gefährlicher seien die inneren Krisen. „Todesfälle während der Unterbringung sind sehr selten, Suizidversuche kommen aber auch bei uns vor – wie in jeder psychiatrischen Einrichtung.“ Vor allem psychosekranke Menschen seien betroffen, die zuvor gute Perspektiven hatten – und plötzlich erkennen, wie stark die Krankheit ihr Leben geprägt hat.
Zehn Sprachen unter einem Dach
Die Spannbreite ist groß. Auf Station 71 wohnen Männer und Frauen zwischen 20 und 60 Jahren, vereinzelt auch darüber hinaus. Jugendliche sind selten. Viele haben eine lange Vorgeschichte – in der Psychiatrie oder im Justizsystem. „Bis es zur Unterbringung nach § 63 kommt, liegt oft eine Reihe von Behandlungen und Straftaten hinter ihnen“, sagt Bulla.
Menschen mit Migrationshintergrund stellen inzwischen knapp die Mehrheit. Das könne leicht missverstanden werden, warnt Bulla. „Es gibt klare epidemiologische Zusammenhänge: Menschen mit Fluchtgeschichte haben ein höheres Risiko, an Psychosen zu erkranken. Hinzu kommen Diskriminierung, Traumatisierung und schwierige Lebensbedingungen.“
Auch sprachlich ist die Station vielfältig: rund zehn Sprachen in einem Haus. „In Konflikten ist es aber oft nicht die sprachliche Barriere, die Probleme macht“, sagt Hartmann. „Meist verstehen sich die Beteiligten verbal gut, können aber nicht nachvollziehen, was der andere wirklich meint – und so entstehen Missverständnisse.“
Wie oft kommt es zu Fixierungen?
Sicherung gehört dazu, ist aber nicht das Ziel. „Unsere Maßnahmen sind Zimmereinschluss oder Isolierung – letzteres bedeutet ein gepolsterter Raum, ersteres ein normales Patientenzimmer“, erklärt Bulla. Fixierungen seien die Ausnahme: „Ein- bis zweimal im Jahr höchstens, wenn sich jemand sonst schwer verletzen würde.“
So sind Lockerungen geregelt
Lockerungen sind streng geregelt. „Lockerung heißt: das Gelände ohne Sicherung verlassen – zunächst in 1:1-Begleitung“, sagt Bulla. Vorher prüft das Team Risiken anhand einer Checkliste, am Ende entscheidet der Chefarzt. Die Logik sei umgekehrt wie im Gefängnis: Freiheit dürfe nur so weit eingeschränkt werden, wie es das Risiko erfordert.
Trotz aller Prüfungen gehen Patienten manchmal trotzdem einfach weg. „Meist steckt kein großer Plan dahinter“, sagt Bulla. Häufig gehe es um Drogen oder den Wunsch, Angehörige zu sehen. In den meisten Fällen dauere es nicht lange, bis die Betroffenen zurück sind – freiwillig oder von der Polizei gebracht, gelegentlich auch betrunken. „Das sind keine Fälle, die die Öffentlichkeit berühren.“
Konsequenzen gibt es dennoch: Wer entwichen ist, verliert seine Lockerungen. „Dann geht es zurück auf null“, sagt Bulla. Ob und wie schnell jemand wieder vorankommt, hängt vom Einzelfall ab – und davon, ob die Beweggründe nachvollziehbar sind.
„Nicht jeder will in die Forensik“
Auf Station 71 sind tagsüber mindestens drei Pflegekräfte im Dienst, nachts zwei. Die Personalsituation sei angespannt, aber nicht hoffnungslos, sagt Hartmann. „Wir haben offene Stellen, wir stellen auch ein. Aber nicht jeder will in die Forensik.“ Manche kämen mit falschen Vorstellungen – als strenge Aufpasser oder als überengagierte Retter. „Beides ist gefährlich“, warnt Bulla. „Man muss dazwischen bleiben: professionell, mit Distanz, aber menschlich.“
Die Aufenthaltszeiten sind gestiegen: In Baden-Württemberg liegt der Schnitt inzwischen laut Bulla bei fünf Jahren, auf der Reichenau etwa zehn Monate darunter. Manche bleiben ein Jahrzehnt oder länger. Entscheidend für die Rückkehr ins Leben sei oft die Familie, sagt Hartmann: „Wer Rückhalt hat, hat bessere Chancen.“ Manche melden sich Jahre später noch einmal – mit einer Grußkarte. Ein Leben draußen, das gelingt, ist der eigentliche Maßstab.
Wie hoch ist die Rückfallquote?
Der Vergleich mit normaler Haft ist eindeutig: Nach einer Haftentlassung wird etwa jede zweite Person erneut verurteilt, das geht aus Vergleichsstudien des Bundesjustizministeriums hervor. Bei Entlassenen aus der Forensik liegen die Werte niedriger.
Nach Paragraf 63 sind schwere Gewaltrückfälle selten; über einen längeren Zeitraum kommt es insgesamt bei etwa einem Drittel zu irgendeinem Rückfall, nicht zwingend zu einer neuen Verurteilung. In der Entziehungsanstalt nach Paragraf 64 liegt das Niveau höher – entscheidend ist, ob die Therapie hier abgeschlossen wurde: Beendete Behandlungen schneiden klar besser ab als Abbrüche.
Wie lange bleiben Menschen?
In Baden-Württemberg liegt die durchschnittliche Aufenthaltsdauer bei gut fünf Jahren, im ZfP Reichenau liegt sie darunter. Die landesweite Vollerhebung zeigt seit 2015 eher einen leichten Rückgang – von etwa 68 auf rund 64 Monate. „Baden-Württemberg liegt im Bundesvergleich nach wie vor am unteren Ende“, sagt Jan Bulla.
Dass die Häuser trotzdem voller werden, hat vor allem mit steigenden Einweisungen zu tun. Länger bleibt, wer besonders sorgfältig geprüft werden muss – und wem draußen der Anschluss fehlt: Wohnung, Arbeit, verlässliche ambulante Hilfe. Das Sozialministerium stellte aber erst Anfang des Jahres klar: Freie Kapazitäten gibt es derzeit nicht, absehbar auch nicht. Die Plätze in den Forensiken werden daher seit Jahren ausgebaut.