Ein ganze Stadt stand erneut unter Schock: Nach der Singener Messerattacke im Dezember 2020 schien am 29. März wieder ein blutiger Konflikt zwischen verfeindeten syrischen Großfamilien lebensgefährlich zu eskalieren.
Mehrere Notrufe gingen ab 16.33 Uhr beim Führungs- und Lagezentrum des Polizeipräsidiums Konstanz ein. Die Anrufer meldeten eine Schlägerei zwischen zwei Jugendgruppen auf dem Platz vor dem Einkaufszentrum Cano. Zuvor soll laut Ermittlungen der Polizei ein Jugendlicher vor dem H&M in der Singener Innenstadt zu Boden geschlagen und mit Fußtritten gegen Kopf und Körper traktiert worden sein. Augenzeugen berichteten dem SÜDKURIER von mehreren tellergroßen Blutlachen vor dem Geschäft.
Schere und Messer als Waffen
Weitere Angehörige der verfeindeten Familien kamen hinzu, um sich mit Tritten, Schlägen, in Nahkämpfen und tumultartigen Szenen gegenseitig zu verletzen. Die Polizei schaffte es kurzzeitig, die Streithähne voneinander zu trennen, und forderte eine Großfamilie auf, nach Hause zu gehen, was diese auch beabsichtigte.

Doch Mitglieder der anderen Großfamilie, von der eine Reihe von Personen auch bereits an der Singener Messerattacke nachweislich als Angreifer involviert waren, soll einmal um den Block gelaufen sein, um ihre Kontrahenten an der Ecke Hadwigstraße/Thurgauer Straße abzupassen. Dabei sollen laut Ermittlungen auch gefährliche Schneidewerkzeuge – vermutlich eine Schere – sowie mutmaßlich auch ein Taschenmesser eingesetzt worden sein.
Ermittlungen gegen 24 Tatbeteiligte
Zehn Beteiligte wurden bei den Auseinandersetzungen verletzt, vier davon mussten stationär behandelt werden. Einige Beteiligte der Singener Massenschlägerei waren laut polizeilichen Erkenntnissen auch bei der Auseinandersetzung am Herz-Jesu-Platz im Dezember 2020 dabei, die am selben Tag wie die Singener Messerattacke stattfand.

Wie die Staatsanwaltschaft Konstanz nun auf SÜDKURIER-Anfrage bekannt gab, hatten die Einsatzkräfte 20 Teilnehmer der Massenschlägerei am 29. März vorübergehend festgenommen und am selben Tag wieder auf freien Fuß gesetzt. „24 Personen haben Beschuldigtenstatus, gegen sie werden Ermittlungsverfahren geführt“, sagte Staatsanwalt Andreas Mathy.
144 Euro Gebühren für Verbannung
Als Reaktion auf den bisherigen traurigen Höhepunkt hat die Stadt Singen nun 27 Beteiligte der Massenschlägerei für drei Monate aus der Singener Innenstadt verbannt und einen Gebührenbescheid von 144 Euro pro Nase verhängt. Jene Betroffenen, die in der Innenstadt wohnen oder arbeiten, sehen dies als ungerecht an. Besonders die, die angegriffen und verletzt wurden, fühlen sich von der Stadt doppelt bestraft. „Die Stadt kann nicht die Verursacher und die Opfer in ein Boot werfen“, sagt einer. Man hätte die Entscheidung der Staatsanwaltschaft abwarten müssen.
Lange bevor die Stadt Singen ihre Verbannung aussprach, haben sich einige syrische Familienmitglieder und der langjährige Singener Esat Kisaoglu bemüht, die Älteren der involvierten Clans in Deutschland, der Türkei und Syrien an einen Tisch zu bekommen, um ihren jugendlichen Nachwuchs wieder miteinander zu versöhnen. „In der arabischen Kultur ist das so: Wenn zwei sich streiten, müssen die Ältesten miteinander reden“, sagt Kisaoglu.
Der Türke lebt seit 35 Jahren in Europa, ist deutscher Staatsbürger, Christ und an der Grenze zu Syrien mit der Muttersprache Arabisch aufgewachsen. Zahlreichen syrischen Familien, die vor dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat nach Deutschland geflohen sind, hat er erfolgreich bei der Wohnungssuche und Behördengängen, etwa auch als Übersetzer, geholfen.
Polizei beobachtete Treffen
Auch dank seiner Initiative kam es zu mehreren Vorgesprächen unter den „Älteren“, deren Wort in der arabischen Kultur als Gesetz gilt. Schließlich lud die eine syrische Großfamilie die anderen Familien am Abend des 24. April in einer eigens angemieteten Halle in Gottmadingen zu einem ersten Friedensessen ein.
Am 1. Mai kam es am selben Ort zur Gegeneinladung, wobei dieses Mal die Polizei die Veranstaltung den ganzen Abend über beobachtete. Bei beiden Anlässen aßen und tranken etwa 70 bis 80 männliche Mitglieder der beteiligten syrischen Familien friedlich miteinander.

Die Schuldfrage stand bei den Treffen nicht im Vordergrund. Ziel war es, die jugendlichen Streithähne zu versöhnen. „Bei uns heißt es Brot und Salz – wer zusammen isst, muss sich gegenseitig respektieren und kann alle Probleme aus der Welt schaffen“, sagt ein Tatbeteiligter, der wie alle anderen auch anonym bleiben will, dem SÜDKURIER.
„Hatte vor dem Treffen Angst“
Selbst Verletzte, die bei der Singener Massenschlägerei nachweislich Knochenbrüche erlitten hatten, sollen mit den Verursachern beim Essen gesprochen und ihnen verziehen haben. „Was passiert ist, ist vergessen, wir öffnen ein neues Kapitel. Vor dem Treffen hatte ich Angst, auf die Straße zu gehen, jetzt fühle ich mich wieder sicher“, sagt ein junger Syrer.

Egal welches Familienmitglied auf beiden Seiten jetzt noch einen Konflikt schüren wolle, bleibe allein und bekomme keine Unterstützung mehr von älteren Verwandten, wie das bisher der Fall war. „Wenn die Älteren ein Versprechen geben, dann können die Jüngeren das nicht unterlaufen – der Respekt vor den Älteren in unserer Kultur ist riesengroß“, sagt ein Beteiligter der Massenschlägerei.
Wird der Frieden also halten und dauerhaft Ruhe in Singen einkehren? „Die Friedensessen waren genau das, was wir erreichen wollten – nämlich, dass die Kids nicht zurück, sondern nach vorne schauen“, sagt Kisaoglu.
Ermittler bestätigt Versöhnung
Er geht davon aus, dass jeder Elternteil und alle Erwachsenen der beteiligten syrischen Familien nun ihre Kinder und Jugendlichen zur Vernunft bringen werden. „Zu 80 oder 90 Prozent wird es ruhig bleiben, aber eine Garantie dafür gibt es selbstverständlich nie“, sagt der langjährige Kenner der arabischen Community im Hegau.
Auch aus Polizeikreisen wird die Versöhnung auf SÜDKURIER-Anfrage bestätigt. Ein Ermittler zeigt sich vorsichtig optimistisch. Man werde sehen, wie lange der Frieden halte.