Friedrichshafen – Die Ärmel des T-Shirts verdecken so manches Tattoo, das Andreas S. (Name geändert) heute nicht mehr stolz zeigt. Aber auch Hakenkreuz und Totenkopf gehörten zu seinem Leben, das schon in der Kindheit aus den Fugen geriet und ihn als Teenager ins Gefängnis brachte. Viereinhalb Jahre Strafvollzug bekam der heute 28-Jährige, als er gerade volljährig geworden war. Er und seine Kumpels aus der rechten Clique hatten einen Mann nachts brutal zusammengeschlagen und beraubt.
Die beiden Männer sitzen auf einem Geländer, rauchen, quatschen. Damals, vor fast zehn Jahren, lernte Andreas S. den Streetworker kennen. Dass Florian Nägele ab 2008 in Friedrichshafen auf die Straße geschickt wurde, war einer damals gefestigten rechten Szene geschuldet. Nazi-Aufmärsche beschäftigten die Stadt über Jahre. Der damalige Oberbürgermeister Josef Büchelmeier und der Polizeichef Karl-Heinz Wolfsturm sahen in der Straßensozialarbeit eine Möglichkeit, Zugang zu einer Kerngruppe von rund 30 jungen Leuten zu bekommen, die Polizei und Justiz auf Trab hielten. Genau das wurde Nägeles Job.
Andreas S. gehörte da schon fast zwei Jahre zu dieser Gruppe. Er entstammt einer Großfamilie mit acht Kindern. Der Vater stirbt früh; die Mutter, völlig überfordert, kann nicht verhindern, dass einige ihrer Kinder in Pflege- oder Gastfamilien kommen, auch Andreas. „Ich wurde eng geführt“, erinnert er sich, macht einen guten Hauptschulabschluss, will die mittlere Reife schaffen. Dann bricht der pubertierende Teenager, der seine erste Freundin hat, aus und gerät wie drei seiner Brüder, die schon mehrfach straffällig geworden waren, auf die schiefe Bahn.
Schlägereien, Sachbeschädigung, Schwarzfahren. Mit 16 entlässt ihn das Jugendamt aus der Fürsorge, die Jugendgerichtshilfe übernimmt. Der Junge kommt bei seinem älteren, schwer drogenabhängigen Bruder unter, der sich für ihn aber nicht interessiert, ihn einfach machen lässt.
Der Teenager findet Anschluss bei jungen Leuten, „denen es gleich ging wie mir und die auch nicht die beste Kindheit hatten“. Andreas S. ist froh, dass er in dieser Gruppe akzeptiert ist, die lautstark Partys am Seeufer feiert. Die „Gang“-Mitglieder wollen mit Kampfhund, Glatze und Bomberjacke Aufsehen erregen, ein gewisses Machtgefühl ausleben. „Statt Hänseleien über den Fettsack oder den Looser in der Schule haben sich alle eingeschissen, wenn wir aufgetaucht sind“, erzählt Andreas. In der Gruppe fühlen sie sich stark, Gewalt ist Teil der Gruppendynamik. Die Nazi-Symbolik, der Hass auf alles Etablierte und Fremde stärken das Zusammengehörigkeitsgefühl. Für den Streetworker war das hingegen eher eine Gruppe trauriger Kinder, die sich in der Clique heimisch fühlten. „Ein Sammelbecken für Leute, die so ihre Schwierigkeiten hatten, woanders keinen Anschluss fanden“, sagt er. Deren Anführer allerdings waren harte Rechte.
„Ich bin selbst behütet und gesund aufgewachsen, für mich war das eine andere Welt“, erzählt Nägele, und Andreas S. grinst. Er kennt die Geschichte. Nach wochenlangen Recherchen gelang dem Streetworker damals in einer Kneipe der Einstieg in die Szene. „Da saß er: Zwei-Meter-Typ, 130 Kilo schwer, Glatze, Tattoos, klare Symbolik. Ich wusste: Der hat Masse, der hat was zu sagen.“ Als der ihn beim gemeinsamen Dartspiel dann fragte, wer er überhaupt sei, war dem Sozialarbeiter mehr als mulmig zumute. Doch sein Gegenüber fand die Idee cool, dass da so ein Streetworker nun für die „Baby-Skins“ zuständig sein soll, die so viel Mist bauten. Monatelang zog er mit den Jungs um die Häuser, spielte Fußball mit ihnen. Als Florian Nägele glaubte, mit seiner Arbeit, dem unterschwellig positiven Einfluss etwas verändert zu haben, schlugen ein paar „seiner“ Jungs den Mann im Riedlewald zusammen.
Jeder Einzelne saß seine Strafe ab. Nägele betreute sie und ihre Familien weiterhin; Kontakt hält er zu den meisten bis heute. Auch zu Andreas S., den er damals zum Strafantritt ins Gefängnis begleitete, weil es kein anderer tat. Die Zeit drinnen wird hart. Einschluss an Weihnachten, "da bleibt die Zelle kalt". Seine Freundin bekommt eine Tochter. Von seinen Kumpels lässt sich keiner blicken, nur der Streetworker kommt. "Im Nachhinein bin ich ganz froh, dass er rein musste. War eine heilsame Erfahrung", sagt Florian Nägele. Andreas S.: „Ich hab' mir im Knast geschworen, danach nie wieder rein zu müssen.“ Er entscheidet sich, auszusteigen.
Die Leute von „Big Rex“ hätten ihm die Augen geöffnet. "Ich hab' Scheiße gebaut. Was ich getan habe, tut mir echt leid." Andreas S. nutzt das Aussteigerprogramm, das nach Angaben des Landeskriminalamts bis dato 181 Rechtsextremen Unterstützung gewährte, um Klarheit über sein Leben und was bis dahin schief lief zu bekommen. Nach zweieinhalb Jahren wird er dank guter Führung aus dem Strafvollzug entlassen, aber auch draußen wird ihm nichts geschenkt. Und da waren die alten Kumpels, zu denen er keinen Kontakt mehr haben sollte. „Es war ein schwerer und langer Weg da raus, aber ich hab’s ohne Nachwirkungen geschafft“, erzählt er. Mancher „Verräter“ sei nicht so glimpflich rausgekommen. Die mit ihm im Knast waren, stiegen – bis auf einen – alle aus der Naziszene aus. „Ein paar sind immer noch quer im Kopf, aber nicht mehr rechtsradikal“, sagt Florian Nägele heute. Andreas S. nennt ihn "väterlicher Freund".
Nach der dritten Zigarette gesellen sich eine Frau und zwei kleine Kinder zu dem Männer-Duo. „Ich will die beiden aufwachsen sehen“, sagt der 28-Jährige, küsst seine Frau. So richtig hat er sein Leben immer noch nicht auf der Reihe, ist wieder auf Jobsuche, lebt von der "Stütze". Aber er ist seither nicht mehr straffällig geworden, engagiert sich in der Freizeit als Fußballtrainer – mit Flüchtlingskindern in seiner Mannschaft.
Rechtsextremismus
- „Big Rex“ ist die Abkürzung für die Ausstiegshilfe der Beratungs- und Interventionsgruppe Rechtsextremismus, die seit 16 Jahren beim Landeskriminalamt Baden-Württemberg angesiedelt ist. Nach deren Angaben sind seither mehr als 2600 Personen im Zielspektrum kontaktiert worden. Laut Innenministerium sind 563 Personen seither aus der rechten Szene ausgestiegen, davon 181 mit Unterstützung der Big Rex. Zu den Aufgaben der Gruppe gehören auch Aufklärung und Beratung von Eltern, Schulen und Kommunen sowie die Präventionsarbeit.
- In den vergangenen zwei Jahren ist die Zahl der rechtsextremistischer Gewalt- und Straftaten im Land nach Angaben des Innenministeriums drastisch angestiegen und liegt wieder auf dem Niveau wie vor etwa zehn Jahren. 2016 wurden 1415 Taten registriert, im Jahr zuvor 1555. Im Durchschnitt der Jahre von 2007 bis 2014 waren es weniger als 1000 pro Jahr. (kck)