An jenem Donnerstag, als der Zweite Weltkrieg nach Überlingen kam, hing über dem Bodensee ein wolkenloser Winterhimmel. Nachdem die Sirenen der Stadt an diesem kalten Morgen des 22. Februar 1945, vor 80 Jahren, bereits mehrfach Alarm und Entwarnung geheult hatten, verkündete um 12.20 Uhr erneut ein einminütiger Heulton „Luftalarm“. Bis dann ein vielfaches tiefes Brummen das kommende Unheil ankündigte, verging nochmals eine gute Stunde.

„Gute Konzentration im Zielgebiet“

Gegen 13.45 Uhr griffen sieben Mittelstreckenbomber vom Typ Martin B-26 Marauder den Überlinger Westbahnhof an, heute „Bahnhof Therme“. Exakt um 14.05 Uhr begannen die zweimotorigen Maschinen in niedriger Höhe von 5600 Fuß (1707 Meter) ihre Bombenschächte zu leeren, in denen insgesamt 56 Sprengbomben von 500 amerikanischen Pfund Gewicht darauf gewartet hatten, ihr zerstörerisches Werk zu verrichten. „Gute Konzentration über das Zielgebiet, Feuer gesichtet“, vermerkt Air Corps Captain Norman Louis Farberow im Einsatzbericht.

Bild 1: Am 22. Februar 1945 brachten sieben Bomber den Zweiten Weltkrieg nach Überlingen
Bild: Kerstan, Stefanie

Die Bomber hatten längst abgedreht, da hörten die Überlinger um 14.15 Uhr zum ersten Mal das Signal „Akute Luftgefahr“, zwei kurze Heulperioden von acht Sekunden Gesamtdauer. Da waren 20 Menschen bereits tot, sechs Gebäude total zerstört und 55 Häuser teils schwer beschädigt. 100 Menschen wurden obdachlos.

Bis vor einigen Jahren wussten man in Überlingen weder sicher, wem oder was dieser Angriff galt, noch kannte man die Nationalität der Bomber. Dann ging Rudolf Christiani, Ortsvorsitzender des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, zum 65. Jahrestag der Bombardierung, mit seinen Recherche-Ergebnissen an die Öffentlichkeit.

Wanderlegende um KZ-Stollen als Angriffsziel

Der Jahrestag der Ereignisse gibt Anlass, zu erinnern: Nach dem Krieg hatte sich die Wanderlegende verbreitet, der Angriff habe dem KZ-Stollen gegolten, dessen Eingang vom Angriff stark betroffen war. Die Nazis hätten quasi durch die Einrichtung eines Konzentrationslagers bei Aufkirch die Aufmerksamkeit der Alliierten auf die friedliche Stadt gelenkt – ab September 1944 mussten 700 KZ-Zwangsarbeiter kilometerlange Stollenanlagen in den Fels treiben, in die kriegswichtige Industrie auf Friedrichshafen verlagert werden sollte.

Zementiert wurde diese Sichtweise durch einen Artikel im Geschichtsband „Überlingen“, der 1970 zum 1200-jährigen Stadtjubiläum erschien. Darin schreibt der Überlinger Journalist Franz Oexle: „Das Blutopfer, das die Stadt für Hitlers Krieg bringen musste, war erheblich größer als im ersten großen Krieg. Als ein im Sandsteinfelsen bei Goldbach gebautes Rüstungswerk einen alliierten Luftangriff auf den Westen der Stadt lenkte, kamen 20 Menschen um. (...) Die Nazis hinterließen einen hässlichen Fleck in Überlingen, als sie kurz vor Kriegsende bei Aufkirch eine kleine Außenstelle des Konzentrationslagers Dachau errichteten.“ Christianis Recherchen entzogen solchen Ansätzen, Überlingen als ideologiefreie Insel im braunen Nazimeer zu sehen, die lediglich durch das KZ besudelt wurde, die Grundlage. Dennoch hört man jene Erklärung auch heute noch. Wobei schon 1970 ein Blick in die „Kriegsprotokolle“ im Stadtarchiv gereicht hätte. Der Eintrag vom 22. Februar 1945 lautet: „Nach den Feststellungen galt der Angriff dem Westbahnhof, der mit seinen Anlagen auch getroffen wurde.“

Ziel war der „Rangierbahnhof“

65 Jahre nach Kriegsende konnte Christiani den Beweis liefern, dass die Einschätzung von 1945 richtig war. Er hatte den Einsatzbericht der „320th Bomb Group“ in einem Buch entdeckt. In „Brennendes Land“ befasst sich der Autor Fred Trendle aus Kirchen-Hausen mit dem „Luftkrieg im Südwesten“ zwischen 1940 und 1945 und brachte den Band 2005 im Eigenverlag heraus. Als Ziel nennt dieser „Mission Report“ eindeutig „Überlingen M/Y“, was im Jargon der USAAF (United States Army Air Forces) für „Marshalling Yard“ steht, für Rangier- oder Verschiebebahnhof.

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Viele Jahre lang hatte Rudolf Christiani namens des Volksbundes immer am 22. Februar zu einer Gedenkstunde an der Gedenktafel auf dem Städtischen Friedhof eingeladen. Zum 65. Jahrestag stellte er dort seine Recherchen vor. Es war das letzte Gedenken an den Luftangriff, denn bald darauf starb Christiani. Zum großen 75-jährigen Jubiläum gab es 2020 keine Gedenkstunde. Nein, es sei nichts geplant, erklärte Eckhard Schulz, heute Überlinger Vorsitzender des Volksbundes. Er sei da von seinem Vorgänger, Christianis Nachfolger, auch nicht eingewiesen worden, wie das bislang gehandhabt wurde.

Das „Angriffsfoto“, das eine der US-amerikanischen Bomberbesatzungen am 22. Februar aus 1700 Metern Höhe schoss. Das Ziel wird als ...
Das „Angriffsfoto“, das eine der US-amerikanischen Bomberbesatzungen am 22. Februar aus 1700 Metern Höhe schoss. Das Ziel wird als „Marshalling Yard“ bezeichnet – Rangierbahnhof. | Bild: 320th Bomb Group US Air Force

Stadt: Gedenken erst am Volkstauertag

Auch im Rathaus wurde nichts geplant. „Zum 22. Februar ist von Seiten der Stadtverwaltung keine Gedenkfeier angedacht“, heißt es auf Nachfrage von der Pressestelle: „Jährlich lädt die Stadt gemeinsam mit dem Ortsverband des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge zur gemeinsamen Gedenkfeier für die Toten der beiden Weltkriege am Volkstrauertag auf den Überlinger Friedhof ein.“ Da sich 2020 das Kriegsende des Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal jähre, werde dies bei der Gedenkfeier am Volkstrauertag am Sonntag, 15. November, besonders bedacht. „Bei dieser Gedenkfeier wird auch an die schrecklichen Ereignisse in unserer Stadt vor 75 Jahren erinnert“, schreibt die Pressestelle im Jahr 2020 weiter.

Stadtarchivar Walter Liehner erläutert, dass Landesgartenschau und 1250. Stadtjubiläum für ein vollgefülltes Jahr sorgen und man sich bei der Planung des Stadtgeburtstags darauf geeinigt habe, deren Geschichte in einer – bereits laufenden – chronologischen Vortragsreihe zu erarbeiten. Deshalb sei das Dritte Reich im 20. Jahrhundert erst im Herbst terminiert.

Dort, wo der Bombenangriff ein Trümmerfeld hinterließ, findet dieses Jahr die Landesgartenschau 2020 statt. Während der Erdarbeiten ...
Dort, wo der Bombenangriff ein Trümmerfeld hinterließ, findet dieses Jahr die Landesgartenschau 2020 statt. Während der Erdarbeiten wurde deshalb auch nach Blindgängern gesucht. | Bild: Archiv Lauterwasser

Insgesamt kamen bei dem Bombenangriff 20 Menschen ums Leben. Fünf der Todesopfer waren Überlinger, darunter die erst siebenjährige Ruth Steinhauser, die sich in einen der Stolleneingänge hatte retten wollte, dort aber unter herabstürzenden Felsfragmenten begraben wurde. Ein ähnliches Schicksal erlitten wohl auch die „vier beim Stollenbau im Westen beschäftigte Personen und elf Ausländer der verschiedenen Arbeitsgemeinschaften“, von denen in den Kriegsprotokollen die Rede ist. Zehn dieser elf Ausländer waren höchstwahrscheinlich Kriegsgefangene, die wie die KZ-Insassen beim Stollenbau eingesetzt waren. Lediglich ein Opfer konnte Oswald Burger als KZ-Häftling identifizieren. Die Totenlisten des KZ Dachau verzeichnen für das KZ-Außenlager Aufkirch für 22.2.1945 einen einzigen Namen, den des 22-jährigen russischen Schlossers Andrey Aschirow, und die Todesursache lautet: „Stolleneinbruch (Bombenangriff)“. Die vier „beim Stollenbau beschäftigten“ waren laut Burger keine KZ-Aufseher, sondern höchstwahrscheinlich Vertreter der „Organisation Todt“, die für Planung und Ausführung der Anlage zuständig war.

Der Luftangriff auf Überlingen am 22. Februar 1945 tötete 20 Menschen und zerstörte zahlreiche Gebäude. Sechs Häuser wurden total ...
Der Luftangriff auf Überlingen am 22. Februar 1945 tötete 20 Menschen und zerstörte zahlreiche Gebäude. Sechs Häuser wurden total vernichtet, zehn schwer beschädigt, sieben mittelschwer und 38 leicht. 100 Personen wurden obdachlos. | Bild: Foto Lauterwasser, Überlingen

Riesige Luftstreitmacht hatte 9000 Flugzeuge

Der Autor Fred Trendle erläutert in seinem Buch auch, dass die Bombardierung des Bahngeländes Teil der Operation „Clarion“ war, „Kriegstrompete“. Der Codename steht für einen Großangriff, der die totale Luftüberlegenheit der Alliierten demonstrieren und den Deutschen die eigene Hilflosigkeit vor Augen führen sollte, ist in amerikanischen Archiven nachzulesen. Die US-amerikanischen und britischen Bomberverbände sollte militärische Ziele, insbesondere Verkehrsanlagen im gesamten Deutschen Reich angreifen, die bisher von Luftangriffen verschont geblieben waren. Und so stiegen am 22. und 23. Februar 1945 sämtlichen einsatzbereiten Flugzeuge der in England, Frankreich, Holland, Italien und Belgien stationierten alliierten Luftstreitkräfte auf, schreibt Fred Trendle in „Brennendes Land“, insgesamt etwa 9000 Bomber, Jagdbomber, und Jagdflugzeuge, um diesen „noch nie dagewesenen Demonstationsangriff“ durchzuführen. Auch um der deutschen Bevölkerung zu zeigen, schreibt Trendle weiter, dass sie in keinem Winkel des Reiches mehr vor den alliierten Bomben sicher sei.

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Teil dieser gigantischen Luftstreitmacht, die am Donnerstag, 22. Februar, aufstieg, war auch die „320th Bomb Group“ unter Commander Colonel Woolridge, die mit ihren Martin B-26 Marauder in Dijon, im französischen Burgund, stationiert war. Sie griffen Überlingen, St. Georgen, Löffingen, Geisingen und Ludwigshafen an, jeweils mit der identischen Zielangabe „M/Y“, also Rangierbahnhof. Nur bei Messkirch ist im Missionsbericht „RR Station“ angegeben – Railroad Station, Bahnhof.

Es wurde 15.17 Uhr an jenem 22. Februar vor 80 Jahren, bis ein hoher Dauerton von einer Minute rund ums Münster „Entwarnung“ verkündete. Die sieben mit jeweils sechs Crewmitgliedern besetzten B-26, die den Westbahnhof bombardiert hatten, landeten um 15.21 Uhr wieder auf ihrer Basis in Dijon.

Unter dem Datum vom 22. Februar 1945 berichten die Überlinger „Kriegsprotokolle“ vom Luftangriff.
Unter dem Datum vom 22. Februar 1945 berichten die Überlinger „Kriegsprotokolle“ vom Luftangriff. | Bild: Baur, Martin

Dieser Artikel erschien erstmals am 21. Februar 2020.