von Martin Baur

Überlingen – Es waren dramatische Stunden, die Überlingen an jenem 25. April 1945 erlebte, bis die Panzer der einmarschierenden Franzosen die Hofstatt erreicht hatten. Um 18.15 Uhr übergab Nazi-Bürgermeister Albert Spreng gemeinsam mit Stadtinspektor Julius Kitt die Stadt direkt vor der „Löwenzunft“. Dieser Ort, an dem heute im Nachfolgegebäude das „Fischhaus Löwenzunft“ untergebracht ist, war in der Zeit des Nationalsozialismus vielfache Kulisse der Geschichte. Deshalb hatte der Überlinger Historiker Oswald Burger bewusst hierher eingeladen zur Vorstellung des Buches „Täter Helfer Trittbrettfahrer. NS-Belastete aus dem Bodenseeraum“. Als Burger für den einladenden Verein "Dokumentationsstätte Goldbacher Stollen und KZ Aufkirch in Überlingen", der die Herausgabe des Buches mit ermöglicht hatte, die Bedeutung von Ort und Datum erläuterte, gab es nicht mal mehr einen Stehplatz im Gastraum des Fischhauses.

Das Buch, in dem 19 Portraits zusammengetragen sind, ist das fünfte in einer Reihe, in der Herausgeber Wolfgang Proske (Ulm) Baden-Württemberg durchwandert und das sich mit Menschen beschäftigt, deren Lebensgeschichten mit dem Nationalsozialismus verwoben sind. "Bisher war der Fokus – mit gewissem Recht – auf die Opfer gericht, mit den Tätern haben wir uns in der Regionalgeschichte eher selten beschäftigt", erläuterte Burger. "Heute ist das leichter zu machen, weil die unmittelbar Betroffenen nicht mehr am Leben sind und man nicht mehr in Wespennester treten muss."

Zwei Autoren hatte Burger eingeladen. Walter Hutter, Historiker aus Bermatingen, referierte über den Sipplinger Gustav Robert Oexle (1889 bis 1945), der aus einfachsten Verhältnissen kam und zu einer zentralen Figur der NSDAP insgesamt wurde. Der in Nußdorf lebende Nazi war für die Verbreitung der Partei in der Region Überlingen verantwortlich und brachte es bis zum "Sonderbeauftragten des Stellvertreters des Führers". Der zweite Autor, Arnulf Moser, Historiker aus Konstanz, machte auf dieser Seeseite mit Otto Raggenbass (1905 bis 1965) näher bekannt. Er war Bezirksstatthalter im schweizerischen Kreuzlingen von 1938 bis 1965 und in Konstanz als vermeintlicher Wohltäter während des Krieges lange Zeit hoch geachtet und bis heute durch eine nach ihm benannte Straße geehrt. Moser konnte nachweisen, dass Raggenbass nicht nur Antisemit war, auch nach dem Kriege noch, sondern sich auch in seiner Funktion als Kopf der Polizeiaufsicht und unteren Strafverfolgungsbehörde schuldig machte.

Drei Historiker bei der Buchvorstellung in der Löwenzunft: Oswald Burger (Mitte), unterstütz mit seinem Verein Goldbacher Stollen und KZ ...
Drei Historiker bei der Buchvorstellung in der Löwenzunft: Oswald Burger (Mitte), unterstütz mit seinem Verein Goldbacher Stollen und KZ Aufkirch in Überlingen das Buchprojekt, in dem Arnulf Moser (links) über Otto Raggenbass und Walter Hutter über Gustav Robert Öxle schrieben. | Bild: Martin Baur

In und um die Löwenzunft begann und endete das „Dritte Reich“ in Überlingen: Kurz nachdem die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 die Macht übernommen hatten, mietete die NSDAP das aus dem Mittelalter stammende Gebäude von der Stadt und brachte hier Ortsgruppen- und vor allem Kreisleitung unter, wie Burger erläuterte. Die Franzosen hatten beim Einmarsch diesen Platz wohl sehr bewusst gewählt für den Akt der Stadtübernahme. Eine gute Stunde, bevor sie hier eintrafen, erschoss sich in Nußdorf jener Gustav Robert Oexle mit seiner Dienstwaffe, der für die Region ein Nazi der ersten Stunde gewesen sei, wie Autor Hutter beschrieb und "einer der Gründerväter der NSDAP im Bezirk Überlingen".

Oexle war 1909, mit 20, in die Kaiserliche Marine eingetreten und am Ende des Ersten Weltkriegs ein dekorierter Kreigsheld. 1920 zurück am Bodensee, fand er Aufnahme bei einer Familie Lang in Nußdorf, die dort eine Pension betrieb. Dieses Haus wurde zur Anlaufstelle für rechtsextreme Aktivisten und verfolgte Nationalsozialisten. Und es war Waffenlager. Eugenie Lang bestimmte Oexle schließlich testamentarisch zu ihrem Pflegesohn und Nacherben. Ihre Tochter Margarete, zwölf Jahre älter als Oexle, wurde seine Schwester und Lebensgefährtin. Und sie begleitete ihn ideologisch als Kreisfrauenschaftsführerin. Am 28. April 1944 starb sie bei einem Verkehrsunfall im Dienstwagen des Überlinger Kreisleiters Ernst Bäckert (1899 bis 1962), der zwischen Hagnau und Immenstaad mit überhöhter Geschwindigkeit volltrunken von der Straße abgekommen war. Als Kreis- und Gauleitung Ermittlungen der Staatsanwaltschaft verhindern, zeigt sich Oexles Macht: Er interveniert bei Martin Bormann, dem mächtigsten Mann nach Hitler, und beim Reichsinnenminister und Reichsführer-SS Heinrich Himmler: Am 31. Januar 1945 suspendierte Gauleiter Robert Wagner den Trunkenheitsfahrer. Wie stark Oexles Position in der Partei war, belegt laut Hutter auch die Verleihung des "Goldenen Parteiabzeichens" an ihn am 30. Januar 1939.

"Es dürfte überraschend sein, im Rahmen dieses Sammelbandes zur Bodenseeregion einen Schweizer Beamten zu finden", beginnt Arnulf Moser seinen Aufsatz über Raggenbass. Doch hat der Thurgauer sich während deren Herrschaft derart mit den Nazis eingelassen, dass die Franzosen nach dem Krieg eine monatelange Einreisesperre gegen ihn verhängten. Wohl auch deshalb habe er seine Rolle als "Retter von Konstanz" aufgebauscht, sagt Moser. Durch Raggenbass' 1964 im "Verlag des SÜDKURIER" erschienenes Buch "Trotz Stacheldraht" und die mediale Begleitung festigte er die eigene Legende vom menschlichen Wohltäter. Doch längst ist das Gegenteil beweisbar, wie Moser ausführlich schilderte, der bereits 2010 seine Forschungen innerhalb einer Vortragsreihe zu strittigen Straßennamen in Konstanz präsentierte. Die Schweiz habe in den vergangenen Jahren ihre Hausaufgaben gemacht und lasse es in Veröffentlichungen nicht an kritischen Worten zu Raggenbass' Rolle fehlen. Aber in Konstanz, wo alljährlich mehrere Veranstaltungen zum Auschwitz-Gedenktag oder zum Gedenken an die Reichskristallnacht veranstaltet würden, gebe es 200 Meter vom früheren Synagogenplatz eine Straße für jemand, der jüdische Schulkinder ausgewiesen habe, der Flüchtlinge ausgeschafft habe und Fluchthelfer bestraft habe. Es sei dabei zu prüfen, endete Moser die Schilderung von Raggenbass' Verhalten, ob man die Konstanzer Straßenbenennungskommission nicht doch noch mal in die Gänge bringen könne.

 

„Dann ist er zurück gegangen und hat sich auf dem Grab erschossen“

Überraschend gab es am Ende der Buchvorstellung Geschichte aus erster Hand. Ob denn jemand Gustav Robert Oexle, die NS-Zeit in der Region, noch selbst erlebt habe, fragte Oswald Burger in den übervollen Gastraum. Ernst Beck (82) nickte. Er war damals Hitlerjunge und zur Beerdigung der NS-Kreisfrauenschaftsführerin abkommandiert. „Sie erinnern sich noch an das Fräulein Lang?“, hakte Burger nach. „Ja, freilich!“ Der in Nußdorf aufgewachsene Billafinger Landwirt Beck, dort lange Jahre Ortsvorsteher und FDP-Kommunalpolitiker, erzählte: „Als Frau Lang verunglückt war, mussten wir als HJ antreten.“ Ob er allerdings auf dem Foto zu sehen sei, das Historiker Hutter von der Beerdigung gezeigt hatte, müsse er erst mal genau nachsehen. Margarete Lang, die im Dienstwagen des betrunken NSDAP-Kreisleiters gestorben war, wurde eine großes Begräbnis mit allen Parteiehren im Garten ihrer Nußdorfer Pension zuteil.

Auch vom Selbstmord Oexles am 25. April 1945 habe man in Nußdorf schnell erfahren, trotz anfänglicher Vertuschungsversuche. „Das ging wie ein Lauffeuer durchs Dorf.“ Man habe erzählt, er habe noch fliehen wollen. „Dann hat er das Fahrrad an den Gartenzaun gestellt, ist zurück gegangen und hat sich auf dem Grab von Margarete Lang erschossen.“ Was denke Beck, sei der Grund für den Suizid gewesen – die Angst zur Rechenschaft gezogen zu werden? Beck: „Für Oexle ist eine Welt zusammen gebrochen, er wusste genau, das ist nicht mehr seine Welt.“

Als siebenjähriger Junge erlebte Heinz Kucher das Ende der alten Löwenzunft am 1. Mai 1945 mit. Sein Elternhaus war das Gasthaus „Sonne“ in der Münsterstraße, einen Steinwurf entfernt. Was er über die Gründe gehört habe, fragte Burger. „Da hat man darüber geredet, dass ein französischer Soldat eine Zigarettenkippe unachtsam losgelassen hat – aber nicht, dass ein Deutscher das Gebäude in Brand gesteckt hätte.“
 

NS-Prominenz

Gustav Robert Oexle gründete am 1. Mai 1930 in Nußdorf die erste NSDAP-Ortsgruppe im Bezirk Überlingen. Fortan galt Nußdorf in Region und Bezirk als „Geburtsort der Bewegung“. Oexles steile Parteikarriere und seine gute Vernetzung brachte auch Parteiprominenz an den Bodensee. Als Sonderbeauftragter der Parteileitung und der Parteikanzlei arbeitete er vorwiegend von Nußdorf aus. Sein Büro war eine Art „Außenstelle der Parteikanzlei“, schreibt Historiker Hutter. Der Besuch einer illustren NS-Reisegruppe am 5. Mai 1935 ist umfassend vom Überlinger Fotografen Siegfried Lauterwasser dokumentiert. Die Bilder, die heute zum Teil in den USA archiviert sind, wurden großenteils noch nie publiziert – nur einige illustrieren einen Fachaufsatz von Gunter Schöbel, dem Direktor des Pfahlbaumuseums Unteruhldingen, der sich auch mit Regionalgeschichte befasst. Er war es, der den Wissenschaftlern des George-Eastman-Houses in Rochester 2000 half, den Fotografen der spektakulären Bilder zu identifizieren, die auf verschlungenen Wegen in die USA gekommen waren.

Das Buch: Wolfgang Proske (Hg.): „Täter Helfer Trittbrettfahrer. NS-Belastete aus dem Bodenseeraum“. Kugelberg Verlag, Gerstetten, 334 Seiten, 19,99 Euro.