Elmar Veeser

Das Weinhaus Fahr in Gottmadingen ist ein idealer Ort für Lesungen. An diesem Abend war die Schriftstellerin Ulrike Blatter auf Einladung der Gemeinde zu Gast und hatte bei ihrer Lesung ein Heimspiel, denn die gebürtige Kölnerin wohnt seit vielen Jahren in Gottmadingen. Entsprechend groß war die Resonanz, als Ulrike Blatter aus ihrem erst im September erschienenen Buch "Der Hütejunge – Eine Kindheit im Krieg" las.

Aus biografischen Fragmenten nach den Kindheitserinnerungen ihres Vaters und aus Archivmaterial des Eifelstädtchens Stadtkyll, wo dieser seine Kindheit verbrachte, dramatisierte und verdichtete die Schriftstellerin das Material zu einem Roman. Außergewöhnlich ist, dass sie konsequent aus der kindlichen Sicht des Jungen schreibt, der 1934 in die Nazizeit hineingeboren ist und Krieg, Zerstörung und die schwierige erste Nachkriegszeit zwischen dem fünften und dreizehnten Lebensjahr durchmachen musste.

Für Kinder ist der Krieg ein Abenteuer

Er lebt mit seinen fünf Geschwistern auf einem Bauernhof und hütet Kühe. Der Krieg ist für ihn auch erst mal ein Abenteuer, er erlebt einen Luftkampf und, wie ein Pilot, dessen Flugzeug abgeschossen wurde und der sich mit einem Fallschirm rettet, abgeführt wird. Für seine Eltern ist die Situation beklemmend und gefährlich, weil die Naziideologie in den Alltag dringt und die Kinder vom Regime als Denunzianten missbraucht werden.

Zwischen Zerstörung und Hunger

Als der Heimatort 1944 Teil des Aufmarschgebiets für die Ardennenoffensive wird, werden die Belastungen größer. Der Älteste, Johannes, wird eingezogen, es gibt Einquartierungen und die Nahrung wird immer karger. Als im November 1944 der Krieg in Stadtkyll mit Bombardierungen und Kämpfen ankommt, bringt er auch den Hunger. Im Gedächtnis bleibt die Geschichte mit dem Sack Linsen, dessen Inhalt auf einmal vielfache Beine bekommt und zu krabbeln anfängt. Der Junge ekelt sich, kann kaum etwas von den gekochten Linsen zu sich nehmen und bekommt Magenkrämpfe. Er wird vom Fremdarbeiter Jean, einem französischen Kriegsgefangenen gerettet, der der Familie mit abgezweigten Nahrungsmitteln hilft. Ende Januar 1945, nach der Ardennenoffensive im Zweiten Weltkrieg, ist das Eifelstädtchen Stadtkyll, an der belgisch-luxemburgischen Grenze liegend, zu 75 Prozent zerstört.

Familien schlagen sich mühsam durch

Auch die Familie wird "ausgebombt" und dadurch obdachlos. Es beginnt ein Leben im Provisorium, die Familie wandert durch viele Keller und richtet sich schließlich in einem winzigen Raum ein. Jean, der französische Kriegsgefangene, versucht mit einem Auto zu fliehen, doch das wird zerschossen auf der Seite liegend am Wegesrand gefunden. Im Mai 1947 kehrt der älteste Sohn, Johannes, zurück in die Heimat, er ist zerlumpt, abgemagert und die Geschwister erkennen ihn nicht, da er wie ein alter Mann aussieht. Unter der strengen französischen Besatzung, während derer Mangel und Hunger herrschen, führt die Bevölkerung ein unauffälliges Leben. Den zurückkehrenden Juden, die Wiedergutmachung fordern, begegnet die einheimische Bevölkerung mit Misstrauen.

Die Kriegszeit als Gesprächsthema zwischen Vater und Tochter

Die Arbeit zu diesem Buch habe neben der Veröffentlichung einen familientherapeutischen Nutzen gebracht, berichtet Ulrike Blatter während der Lesung, das Verhältnis zum Vater sei viel besser geworden. Doch die Symptome, wie emotionale Kälte, Sprachlosigkeit, Schweigen zum Geschehenen habe sie auch bei den Kriegskindern auf dem Balkan in den 1990er Jahren erkennen können. Dort hatte sie sich für kriegstraumatisierte Menschen eingesetzt, wie sie berichtet. Das Schweigen aufzubrechen sei ein langwieriger, nicht selten jahrzehntelang dauernder Prozess, wie die Schriftstellerin ergänzte. Zum Schluss erhielt Ulrike Blatter viel Applaus und von Sabrina Emhardt, der Leiterin der Gemeindebücherei Gottmadingen, ein Strauß Blumen überreicht.

Ulrike Blatter: "Der Hütejunge – eine Kindheit im Krieg", erschienen 2018 bei CMZ, für 20 Euro im Buchhandel erhältlich