Kreis Konstanz – Das Frauenhaus Konstanz ist für diese Anfrage erst im dritten Anlauf zu erreichen. Das ist beinahe symptomatisch. Der SÜDKURIER will wissen, ob sich in den vergangenen Wochen bestätigt hat, was Bundesfamilienministerin Franziska Giffey zu Beginn des Corona-Lockdowns befürchtete: Hat die häusliche Gewalt während der Ausgangsbeschränkungen zugenommen? Die Frauenhäuser müssten es zuerst erfahren, denn hierhin flüchten sich misshandelte Frauen mit ihren Kindern, wenn sie sonst keinen Ausweg mehr sehen.

Eine Mitarbeiterin, die zu ihrem Schutz nicht namentlich genannt werden will, hat gerade alle Hände voll zu tun. An diesem Morgen hat sie gleich zwei Notfälle und die Polizei im Haus. „Wir sind eine Kriseninterventionseinrichtung und müssen sofort handeln“, erklärt sie. Ein Hausarzt war misstrauisch geworden, weil eine Frau Verletzungen hatte, die nicht zu ihrer Begründung passten. Die Arztpraxis schaltete daraufhin die Polizei ein, die die Frau ins Frauenhaus nach Konstanz brachte. Für die Sozialarbeiterin heißt das, eine sichere Bleibe für die Frau an einem anonymen Ort zu beschaffen.

Wie macht man das, wenn es in der Stadt keine freien Plätze mehr gibt? Während des Lockdowns, als keine Touristen nach Konstanz kamen, konnte das Frauenhaus auf zwei leer stehende Hotelzimmer zurückgreifen. Doch die sind jetzt viel zu teuer.

Suche nach Wohnungen bleibt ohne Erfolg

„Wir sind in der verzweifelten Lage, dass wir Frauen ohne negativen Corona-Test wegschicken müssen“, sagt die Frauenhaus-Chefin Regina Brütsch von der Arbeiterwohlfahrt. „Wir wissen noch nicht, wie wir das stemmen sollen, wenn wir ab Oktober die nächtliche Notbereitschaft im Landkreis übernehmen müssen.“ Alle Anfragen bei der Wohnungsbaugenossenschaft, dem Studentenwerk oder sonstigen Einrichtungen seien auf taube Ohren gestoßen. Auf Suchanzeigen gab es keine Reaktion. Nun hofft Regina Brütsch, dass die Notbereitschaft um einen Monat verschoben wird.

Die Chefin des Konstanzer Frauenhauses, Regina Brütsch, appelliert an alle Wohnungsbesitzer: „Wir brauchen eine Notwohnung, damit ...
Die Chefin des Konstanzer Frauenhauses, Regina Brütsch, appelliert an alle Wohnungsbesitzer: „Wir brauchen eine Notwohnung, damit wir die Frauen, die vor häuslicher Gewalt fliehen, aufnehmen können.“ | Bild: Frauenhaus Konstanz

Zurzeit liegt diese in der Verantwortung des Radolfzeller Frauenhauses. Alle drei Monate geht die Nachtbereitschaft an ein anderes der drei Frauenhäuser im Kreis Konstanz über. In Singen, Konstanz und Radolfzell stehen jeweils zehn Plätze für Frauen und deren Kinder zur Verfügung, die sich vor häuslicher Gewalt in Sicherheit bringen müssen. Schon vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie im März waren in Radolfzell alle Plätze belegt.

„Bis Mitte Mai hatten wir keinen einzigen Anruf“, sagt die dortige Mitarbeiterin, die ebenfalls aus Gründen des Selbstschutzes nicht namentlich genannt werden möchte. „Das war richtig gespenstisch. Doch dann ging‘s los. Seither reißen die Anfragen nicht ab.“ Die Frauen berichten, dass sie während des Lockdowns unter Dauerbewachung standen und ihre Flucht aus der häuslichen Gewalt nicht planen konnten.

Frauen aus allen Gesellschaftsschichten sind betroffen

Erst als die Kinder wieder in den Kindergarten oder in die Schule und der Partner wieder zur Arbeit ging, hätten sie entkommen können. Betroffen seien Frauen aus allen Gesellschaftsschichten. Erschwert werde die Aufnahme im Frauenhaus derzeit durch die verpflichtenden Corona-Tests für rund 150 Euro pro Person. „Die Frauen auf der Flucht sind fast immer mittellos. In anderen Landkreisen werden die Kosten übernommen. Bei uns nicht“, weiß die Radolfzeller Mitarbeiterin. „Oft kommt die Diakonie als Träger des Frauenhauses dann für die Kosten auf.“

Besonders schwierig sei die Situation für die Kinder. Für sie sei es zu der bedrohlichen Familiensituation belastend gewesen, dass sie die Schule nicht besuchen konnten. Regina Brütsch sieht den Schutz der Kinder in Haushalten mit hohem Gewaltpotential nicht mehr gewährleistet. Sie ärgert sich über die Jugendämter, weil die Mitarbeiter die Familien nicht mehr besucht hätten.

Im ganzen Land kaum noch ein freier Platz

Auch die Geschäftsführerin des Singener Frauenhauses, Claudia Zwiebel, berichtet von einer ungewöhnlichen Ruhe im Lockdown. „Wir waren nicht mal voll belegt, weil im März Frauen in eigene Wohnungen umgezogen waren.“ Das habe sich aber schlagartig mit der Lockerung der Corona-Maßnahmen geändert. „Jetzt gibt es in ganz Baden-Württemberg nur noch einen bis drei freie Plätze“, sagt sie. „Ende Juli hatten wir mit 250 Beratungen schon so viele wie sonst in einem ganzen Jahr.“

In die Beratungsstelle kommen auch Frauen, die eine Lösung außerhalb des Frauenhauses suchen. „Diese Frauen schildern mehrheitlich, dass die physische und psychische Gewalt schon vor Corona in den Familien präsent war. In der Enge ist das dann eskaliert.“

Auch männliche Opfer bitten häufiger um Beratung

Und noch eine Folge der Pandemie: Manche Paare seien voreilig zusammengezogen, weil sie Angst hatten, dass sie sich nicht mehr treffen dürften. Dann erst hätten sie das Gewaltpotential des Partners bemerkt. Übrigens hätten sich auch Männer häufiger an Beratungsstellen gewandt, weil sie Gewalt von Frauen erfahren hätten, weiß die Konstanzer Sozialarbeiterin.

Anfang April hatte der SÜDKURIER das Thema häusliche Gewalt aufgegriffen und von einer rätselhaften Ruhe in den Frauenhäusern berichtet. Mittlerweile sind alle Häuser wieder voll ausgelastet. Ein Blick in die Polizeistatistik des Landkreises zeigt, dass der subjektive Eindruck trügt. Mag sein, dass viele Frauen keine Anzeige erstatten. Die mittlere Fallzahl im Zuständigkeitsgebiet des Polizeipräsidiums Konstanz bewegt sich mit 29 Anzeigen von häuslicher Gewalt pro Monat auf Vorjahresniveau.

Herbert Storz von der Stabstelle Öffentlichkeitsarbeit hat in die Kriminalstatistik des Landkreises Konstanz geschaut und bei den „Straftaten gegen das Leben“ einen Fall entdeckt, der aus dem Bereich häuslicher Gewalt kommt. Drei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung finden sich darin ebenfalls wieder. „Bei Straftaten gegen das Leben ist ein Fall natürlich bereits erheblich“, teilt Storz mit.