Der Singener Gemeinderats setzte am Dienstagabend ein klares Zeichen für den Klimaschutz. Die Mitglieder stimmten geschlossen für den Erhalt der Knöpfleswies als Grünzug, wenngleich sie dies nicht als Absage an das Pilot-Bauprojekt Lebenswert verstanden wissen wollen. Wo, wann und in welchem Umfang dieses Vorhaben in der Kernstadt umgesetzt werden kann, steht allerdings in den Sternen.
Sinneswandel innerhalb kurzer Zeit
Die Entscheidung in dieser Deutlichkeit kam nicht zuletzt deshalb überraschend, weil bis vor einigen Monaten die Stadtverwaltung und Oberbürgermeister Bernd Häusler noch voll und ganz hinter der Bebauung des überwiegend als Kleingarten-Anlage genutzten Gebiets in der Nordstadt standen. Eine Analyse zu den Auswirkungen der globalen Erderwärmung auf das Mikro-Klima in Singen sorgte dann jedoch für einen Sinneswandel. In Ausschusssitzungen und bei Parteiveranstaltungen distanzierten sich einzelne Stadträte beziehungsweise Fraktionen von der Bebauung. Eine Bürgerinitiative trug das Ihre dazu bei, dass eine Mehrheit für das Bau-Projekt nicht mehr realistisch war.
Wie den Stadträten ist es offensichtlich auch Oberbürgermeister Bernd Häusler ergangen. Wie er im Vorfeld der Aussprache sagte, sei er ein Verfechter der Nachverdichtung gewesen. Er räumte dabei ein, dass ihm die Bebauung auch aus finanziellen Gründen sehr gut ins Konzept gepasst hätte. Die Einnahmen aus dem Verkauf des Grundstücks, das sich komplett im Eigentum der Stadt befindet, hätten gut für Projekte verwendet werden können, die "die Stadt sonst noch so im Gebetbuch hat".
Aus der Klimaanalyse ergebe sich allerdings die Bedeutung bioklimatischer Flächen wie der Knöpfleswies. Fehlen diese Flächen, sei unter anderem mit einer geringeren Nachtabkühlung in einzelnen Quartieren zu rechnen – mit den damit entsprechenden Auswirkungen für Wohlbefinden und Gesundheit der Menschen. "Aus heutiger Sicht", so Bernd Häusler, "ist deshalb die Bebauung der Knöpfleswies nicht mehr vertretbar."
Charme der Unordnung oder einfach nur ungepflegt?
Als Bestandsgarantie für die Kleingärten wollte der OB seine Neubewertung der Fläche allerdings nicht verstanden wissen. Sein Ziel ist die Nutzung der Knöpfleswies für eine breitere Öffentlichkeit, möglichst mit einer damit einhergehenden Steigerung der bioklimatischen Funktion des Areals. Dazu gibt es durchaus andere Meinungen. Regina Brütsch (SPD) und Dieter Rühland (Neue Linie) können der Knöpfleswies in seiner kleingärtnerischen Unordnung einen gewissen Charme abgewinnen, Kirsten Brößke (FDP) empfindet bestimmte Bereiche der Anlage dagegen "einfach nur als ungepflegt". Auch Veronika Netzhammer (CDU) sieht Bedarf einer "Aufhübschung" der Knöpfleswies.
Abgesehen von derlei ästhetischen Fragen und der künftigen Nutzung der Knöpfleswies ging aus der Debatte das grundsätzliche Problem der Vereinbarkeit von Bebauung und Klimaschutz hervor. OB Häusler prophezeite für den Fall eines anhaltenden Wachstums der Stadt "Riesenprobleme" und Veronika Netzhammer ging diesbezüglich ins Detail. So hat sie bei dem vorerst auf Eis gelegten Bau-Projekt Lebenswert ihre Zweifel, ob die diversen Ziele von Klimaschutz, Ressourcenschonung oder Inklusion und Rücksichten auf soziale Aspekte des Wohnens vereinbar sind. Ihrer Erfahrung nach "muss man im Immobilienbereich mit beiden Beinen auf dem Boden stehen, das Projekt Lebenswert halte ich in dieser Form für nicht realistisch".
Grüner Abschied von einem Mantra
Wie sehr die Klimaanalyse und ihre Vereinbarkeit mit dem Wohnungsbedarf die Denkmuster beeinflusst, ging in der Diskussion insbesondere aus dem Beitrag von Eberhard Röhm hervor. Der Fraktionsvorsitzende der Grünen räumte ein, dass die von seiner Partei verfolgte Grundposition der Innenentwicklung vor der Ausweisung neuer Bauflächen nicht mehr im bisherigen Umfang gelten könne.
Neue Wohnformen, die Konflikte beim Flächenbedarf und Veränderungen in der Baupolitik
- Lebenswert: Bei der Entwicklung des Projekts brachten sich Bürger in Workshops ein. Der Leitgedanke ist ein Quartier, in dem die Idee des gemeinschaftlichen Wohnens und Arbeitens im Vordergrund steht. Angestrebt wird zugleich eine "Durchmischung nach Lebensphasen, Einkommen, Berufs- und Bildungshintergrund sowie nach Staatsangehörigkeit". Zu den Merkmalen des Modells gehören Gemeinschaftsräume sowie Voraussetzungen für die gemeinsame Nutzung zum Beispiel von Autos.
- Bürgerinitiative: Das Bauvorhaben soll in der Innenstadt beziehungsweise innerstädtischer Nähe umgesetzt werden. Die Knöpfleswies galt als geeignet, weil sich das Grundstück in Besitz der Stadt befindet. Es ist zur Zeit an Kleingärtner verpachtet, die sich gegen die Verlagerung ihrer Anlagen an den nördlichen Stadtrand zur Wehr setzten. Sie verwiesen dabei auf die Funktion der Knöpfleswies als sozialer Treffpunkt sowie die bioklimatische Bedeutung des Grünzugs für das gesamte Nordstadt-Quartier.
- Baupolitik: Durch die Wohnungsnachfrage erlebt die Stadt Singen einen Bauboom. Rund 800 Wohnungen befinden sich im Bau oder in der Bauplanung. Ob das genügt und ob dies zur gewünschten Angebotssteigerung von günstigem Wohnraum durch Wohnungswechsel führt, lässt sich schwer abschätzen. Wie viele Wohnungen durch die Umsetzung des Projekts Lebenswert entstehen, hängt von der Größe ist Baugrunds ab. Auf der Knöpfleswies hätten rund 34.000 Quadratmeter zur Verfügung gestanden.
- Baugebiet Schnaidholz: Dass sich in der Baupolitik einiges tut, zeigte sich nicht nur bei der Debatte um das Projekt Lebenswert. Beim Baugebiet Schnaidholz (siehe Grafik) stimmten die Stadträte mit großer Mehrheit der Vergabe der Grundstücke nach dem Erbbaurecht zu. Dabei verbleibt das Grundstück im Eigentum der Stadt, was späteren Generation neue Nutzungsmöglichkeiten eröffnet. Für den aktuellen Nutzer kann das wegen des vergleichsweise günstigen Erbbauzinses eine Finanzierungshilfe darstellen.