Ardian Neziri betritt den Rasen seines Clubs ESV Südstern. Die Feierabendsonne strahlt auf das Hardt-Stadion in der Südstadt in Singen. „Ich habe unglaublich viel Lust, hier so schnell wie möglich wieder aufzulaufen“, sagt der Kicker des Verbandsliga-Aufsteigers. In seiner Hand trägt der 30-Jährige behutsam das neue Heim- und Auswärtstrikot seiner Mannschaft. Nummer 77 und Ardian Neziri steht darauf.
Die Trikots zieht er noch nicht an
Mit einem Schmunzeln zeigt er sie. Noch hängen die Hemden ansonsten im Schrank. „Ich habe die Trikots noch kein einziges Mal angezogen und werde das auch erst tun, wenn ich in der Kabine mit den Jungs bin“, sagt er. Als Extra-Motivation für seine Rückkehr. Es ist offensichtlich: Dieser Mann liebt den Fußball. Schon immer. Doch beinahe wäre er nie wieder auf dem Platz gestanden. Wobei der Sport vor zwei Monaten fast zur Nebensache geworden wäre, als Neziri um sein Leben bangte.
Es ist der 6. Juli 2024, 10.30 Uhr: Ardian Neziri, der im Außendienst arbeitet, ist in Freiburg auf einer Kundenveranstaltung. Wie schon ein Jahr zuvor nimmt er mit einer Gruppe von 30 Leuten an einer Bergtour auf dem Fahrrad teil. Dafür leiht er das E-Bike seines Kumpels aus. Neziri macht sich keine Gedanken, fährt als Vierter der Gruppe bergab. Doch er ist zu schnell. „Ich habe versucht, zu bremsen, aber das ging nicht gut, weil der Boden weich war. Ich habe es einfach unterschätzt, was ich bis heute bereue“, erzählt der Singener.
Das Unglück passiert, er stürzt und prallt gegen einen Baum. Ein spitzer Gegenstand, ein Ast oder eine Baumrinde, bohrt sich in seine Hüfte. Die Kunden eilen herbei, auch die Bergwache ist schnell da. Neziri wird in eine Matratze gepackt. Er verliert Blut, zwei Liter, hat eine 14 Zentimeter tiefe Wunde an der Hüfte.
Neziri wurde mit nur einer Niere geboren
„Ich habe geschrien. Durch den Schock habe ich aber erst einmal keine Schmerzen gespürt.“ Vieles bekommt er nicht mit, sein rechtes Bein kann er aber nicht bewegen. Noch schlimmer allerdings ist die Ungewissheit! Denn es ist die rechte Seite – und Neziri wurde nur mit einer Niere geboren. „Ich hatte Angst. Ich wusste nicht, ob ich lebensbedrohlich verletzt war.“
15 bis 20 Minuten später landet der Helikopter. Neziri wird in die Uni-Klinik nach Freiburg geflogen und dort zunächst untersucht. Sind Organe betroffen? Wie gefährlich ist die Verletzung? „Ich war vor der Operation bei Bewusstsein, hatte höllische Schmerzen und wusste nicht, was Sache ist.“ Für ihn bedeutet die Narkose, dass er erst einmal weg ist. Seine Liebsten zittern währenddessen. Der Vater weint, wie dem Fußballer später erzählt wird, seine Frau und seine Mutter können aufgrund des Schocks keine Tränen vergießen. „Was die durchgemacht haben, das muss die Hölle gewesen sein“, sagt Neziri. Bei seinen Erzählungen wird er von den Emotionen übermannt. Verständlich. „Für mich war der Unfall das Eine, aber der Schaden, den ich meinen Liebsten da zugefügt habe, das war noch viel schlimmer für mich.“
Eine perfekte Hochzeit
Ardian Neziri hat Glück im Unglück. Die Organe sind nicht betroffen, die Wunde berührt zwar noch den Darm, verletzt diesen aber glücklicherweise nicht, wie sich bei der Operation herausstellt. „Er wird wieder“, sagt der Arzt zu seinen Angehörigen. Es sind „nur“ mehrere Muskelschichten, die vollkommen abgetrennt wurden. Die Erleichterung ist riesig.
Der 30-Jährige erholt sich von dem schockierenden Unfall – und denkt freilich auch schnell wieder an Fußball. Beim Gespräch mit dem Arzt zwei Tage nach der Operation fragt er direkt: „Wann kann ich wieder spielen?“ Postwendend antwortet seine Frau, die zum Glück schon seit dem ersten Treffen weiß, wie fußballverrückt ihr Partner ist: „Schatz, wir haben in vier Wochen unsere Hochzeit und du denkst an Fußball.“
Drei Wochen lang von seiner Frau gepflegt
Ardian Neziri ist eben schnell optimistisch, dass er den eigenen Hochzeits-Tag mit Schmerzmitteln durchstehen wird. Aber ein Leben ohne Fußball? Undenkbar! Sechs bis neun Monate muss Neziri aber pausieren, er darf nichts überstürzen. Zumal der Arzt dem Singener klarmacht, dass er froh sein kann, nach diesem Unfall überhaupt mal wieder auf dem Platz stehen zu können.
Nach dem Krankenhaus-Aufenthalt ist der 30-Jährige erst einmal drei Wochen lang „ein Pflegefall“, wie er selbst sagt. Seine Frau sorgt für ihn. Tag und Nacht. „Ich werde ihr auf ewig dankbar sein, was sie alles für mich gemacht hat, das war unglaublich.“ Die Hochzeit am 11. August kann letztlich stattfinden, 250 Gäste feiern in Gostivar in Nordmazedonien das Paar, das sich 2023 kennen und lieben gelernt hat. Eine perfekte Hochzeit, mit toller Stimmung, wie Neziri erzählt. Und wie weit ist er nun mit seinen Rückkehrplänen? Das Krafttraining hat er längst aufgenommen.

Es gehe aktuell vor allem darum, die Rumpfmuskulatur aufzubauen, denn er hat Gewicht verloren. In zwei Wochen will der Defensivallrounder wieder joggen, um letztlich vielleicht sogar in der Hinrunde noch das eine oder andere Spiel machen zu können.
Besonders auf eines schielt er: das Stadtderby in der Verbandsliga gegen den Türkischen SV Singen. Seinen Ex-Club, für den er bis zum Winter der vergangenen Saison spielte, ehe er zu den Südsternen wechselte. „Ich bin nicht aufgestiegen, um jetzt nicht für die Mannschaft da zu sein. Ich möchte Verantwortung übernehmen“, stellt der Kicker klar.

Auf ein Fahrrad will er sich nicht mehr setzen: „Das war das erste und letzte Mal, dass ich ein E-Bike gefahren bin.“ Die Angst ist zu groß. Zumal Neziri den 6. Juli nicht so schnell vergessen wird: „Das ist ab jetzt mein zweiter Geburtstag, da habe ein neues Leben geschenkt bekommen.“