Regen, schlechte Sicht, Schmuddelwetter. Dann beginnt das Poltern. Schreie ertönen. Am Abend des 12. August prasseln Felsbrocken auf die Axenstraße im Kanton Uri in der Schweiz. Die Route am Ostufer des Vierwaldstättersees dient als zentraler Zubringer zum Gotthard-Straßentunnel, dem wichtigsten Nord-Süd-Korridor für Fahrzeuge in den Schweizer Alpen.

Ein Leserreporter von Blick.ch filmt die rollenden Gesteinsmassen. Glücklicherweise kommen keine Menschen zu Schaden – die Axenstraße muss aber gesperrt werden. Der Steinschlag demonstrierte die Urgewalt der Natur, die sich in dem Gebirgsland Schweiz immer wieder entfesselt und Verkehrsadern lahmlegt.

In diesem Jahr häufen sich die beunruhigenden Meldungen aus der Schweiz, nicht nur von der Axenstraße: Sogenannte Massenbewegungsgefahren verwandeln Auto-, Bus –oder LKW-Fahrten durch das Transitland im Herzen Europas mitunter in Risikotrips: Steinschläge, Felsstürze, Erdrutsche und Murgänge, die berüchtigten Schlamm- und Gerölllawinen donnern immer öfter von oben herab. Sie beschädigen und zerstören Straßen, die auch die Logistikbranche und Urlauber aus Deutschland und dem nördlichen Europa nutzen. Die Drehscheibe Schweiz wird zur Gefahrenzone.

Im August verwüstete ein Unwetter Teile des Ortes Brienz im Kanton Bern, Wege und Straßen wurden unpassierbar. Grindelwald, zumal bei ausländischen Feriengästen beliebt, war über Land infolge einer Schlamm- und Gerölllawine großenteils von der Außenwelt abgeschnitten. Rund 200 Touristen kauerten in Notunterkünften.

Blick auf Brienz in Brienz-Brinzauls im November 2024. Am 15. Juni 2023 erreichte ein Erdrutsch beinahe das damals evakuierte Dorf. Nun ...
Blick auf Brienz in Brienz-Brinzauls im November 2024. Am 15. Juni 2023 erreichte ein Erdrutsch beinahe das damals evakuierte Dorf. Nun drohen weitere 1,2 Millionen Kubikmeter Felsschutt abzugleiten. | Bild: Gian Ehrenzeller, dpa

Im Juni zerstörten Wasser- und Felsmassen einen Teilabschnitt der San-Bernardino-Autobahn, der zweitwichtigsten Schweizer Nord-Süd-Verbindung für Fahrzeuge. Die Behörden mussten die Nationalstraße A13 kilometerlang blockieren – ausgerechnet zum Auftakt der Feriensaison. Etwa zur gleichen Zeit gab es auch am Simplon-Pass kein Durchkommen mehr. Murgänge hatten allerlei natürliches Material in den Schutzraum für die Straße, die Galerie, gedrückt.

Trotzdem gute Noten für das Verkehrssystem

Die Liste der Unglücke, die durch den Klimawandel mit verursacht werden, ließe sich fortsetzen. „Es gibt kaum einen Ort in der Schweiz, an dem nicht eine Naturgefahr auftreten kann“, sagt Gian Reto Bezzola Sektionschef Risikomanagement, beim Bundesamt für Umwelt dem Sender SRF. „Darum sind wir potenziell alle betroffen.“ Die dichtfrequentierten Extremwetter und die massiven Straßenschäden lassen in der Schweiz nun bange Fragen aufkommen: Ist das Verkehrssystem für die Bedrohungslage gerüstet? Muss das Land noch mehr auf die Schiene anstatt auf die Straße setzen?

Grundsätzlich geben Experten dem Verkehrssystem gute Noten. Es weise eine „hohe Resilienz“, also Widerstandskraft auf, sagt Bryan Adey, Professor für Infrastruktur an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich gegenüber dem SÜDKURIER. Unter Resilienz oder Widerstandskraft versteht Adey „die Fähigkeit, den Betrieb fortzusetzen, wenn ein störendes Ereignis eintritt“.

Rettungskräfte machen eine Pause an der Stelle eines Erdrutsches bei Lostallo.
Rettungskräfte machen eine Pause an der Stelle eines Erdrutsches bei Lostallo. | Bild: MICHAEL BUHOLZER, dpa

Wiedereröffnung in Rekordgeschwindigkeit

Als Beispiel nennt er den Wiederaufbau der San-Bernardino-Route, der A13: Nachdem Ende Juni der reißende Fluss Moesa einen 200 Meter langen Abschnitt zerstört hatte, eröffneten die Eidgenossen schon Anfang September die Route wieder vollständig. Die zügige Instandsetzung durch das Bundesamt für Straßen und private Bauunternehmen lobt Experte Adey im Rückblick als „erstaunlich“.

Doch viele Strecken des Schweizer Nationalstraßennetzes befinden sich, „aus topographischen Gründen in einer Gefährdungszone“. Das betont das Bundesamt für Straßen, das für die Autobahnen und weitere Nationalstraßen zuständig ist. „Heute sind rund 300 Kilometer des über 1850 Kilometer langen Nationalstraßennetzes Naturgefahren wie Murgängen, Erdrutschen, Lawinen, Felsstürzen oder Steinschlägen ausgesetzt.“

Ein Abwehr-Mix gegen Unglücke

Das Straßenamt setzt auf Frühwarnsysteme und einen umfangreichen Abwehr-Mix gegen Unglücke: Sogenannte Gefahrenkarten zeigen online, wo Siedlungen und Verkehrswege bedroht sind. Zudem klären die laufend aktualisierten Karten über Ausmaß und die Wahrscheinlichkeit auf, mit der ein Murgang oder eine andere Massenbewegung eintreten kann.

Auch baulich beugen die Schweizer vor: So soll der neu entstandene A13-Abschnitt extremen Wettersituationen besser trotzen. Die Planer verstärkten den Straßenverlauf zum Fluss Moesa hin mit Gesteinsblöcken. „Zudem wurde eine Schutzmauer am Fahrbahnrand flussseitig erstellt“, bestätigt Amts-Sprecherin Martina Wirth. „Um die Abflusskapazität der Gewässer Moesa und Orbel wiederherzustellen, wurde das durch den Erdrutsch angesammelte Gesteinsmaterial aus dem Flussbett entfernt.“

Schutznetze sollen dafür sorgen, dass Autofahrer sicher von Steinschlag passieren können – hier auf der Axenstraße.
Schutznetze sollen dafür sorgen, dass Autofahrer sicher von Steinschlag passieren können – hier auf der Axenstraße. | Bild: MARIA SCHMID/Axen.ch

Ebenso spannen die Eidgenossen in Risikozonen große Steinschlagnetze auf, um Verkehrsteilnehmer vor unliebsamen Überraschungen von oben abzuschirmen. Organisatorische Vorkehrungen umfassen die vorsorgliche Sperrung, etwa wenn Lawinen sich im Anmarsch befinden. Die Eidgenossen lassen sich den Schutz der Nationalstraßen einiges kosten.

Sie müssen dafür pro Jahr im Durchschnitt eine zweistellige Millionensumme in Schweizer Franken hinlegen. Um sich besser zu wappnen, setzen Straßenbauer auch auf die Errichtung von Tunneln. „Wenn es sich bei den Störereignissen um solche handelt, die durch extreme Regenfälle oder allgemein durch Stürme verursacht werden, dann hat es viele Vorteile, Teile des Verkehrssystems unterirdisch zu verlegen“, erläutert Experte Adey.

Tunnel sind die Zukunft

Die Kantone Uri und Schwyz vertrauen der Tunnellösung: Zumal entlang des Neubaus der zwölf Kilometer Axenstraße, dem Zubringer zum St. Gotthard-Straßentunnel. Der Felssturz vom August auf die alte Axenstraße markierte nur ein Ereignis in einer langen Kette von kleinen und großen Unglücken in den vergangenen Jahrzehnten: Im Jahr 2019 mussten die Behörden die Route infolge von Felsstürzen und Murgängen sogar für acht Wochen sperren.

Baustart für die Neue Axenstraße – mit vielen Tunneln.
Baustart für die Neue Axenstraße – mit vielen Tunneln. | Bild: Axen.ch

Rund 120.000 Kubikmeter Stein und Material hatten sich zunächst gelöst und begruben große Flächen unter sich. Jetzt soll der Neubau, der auf einer Strecke von rund zwei Drittel durch Tunnelbauten verläuft, den Fahrern die Angst nehmen. Die „neue Axenstrasse mit dem Sisikoner Tunnel und dem Morschacher Tunnel erhöht die Verkehrssicherheit und Verfügbarkeit nachhaltig“, sagt Stefan Gielchen, Gesamtleiter des Projekts. „Die Route ist künftig vor Naturgefahren optimal geschützt.“

Eine Milliarde Franken für die Axenstraße

Allerdings schlägt unterirdische Infrastruktur mit hohen Kosten zu Buche: So müssen die Schweizer für den Neubau der Axenstraße eine Milliarde Franken (mehr als eine Milliarde Euro) aufbringen. Und die Projekte unter Tage ziehen sich in die Länge: So rechnen die Kantone Schwyz und Uri mit rund elf Jahren „Gesamtbauzeit“ für die Neue Axenstraße. Im Jahr 2033 dürfte, „wenn alles plangemäß läuft“, die Neue Axenstraße in Betrieb genommen werden, heißt es.

Für Verzögerungen sorgen nicht nur bauliche, topographische und geologische Herausforderungen. Auch Umweltschützer bremsen mit Beschwerden neue Projekte. Sind die Tunnelbauten erst einmal in Betrieb, dauern Renovierung- und Instandsetzung in den Röhren in der Regel länger als unter freiem Himmel: Das gilt sowohl für den Straßen- als auch den Schienenverkehr. So zogen sich die Arbeiten im Gotthard-Basistunnel nach der Entgleisung eines Zuges im August 2023 mehr als ein Jahr hin.

Bryan T. Adey, Professor am Departement Bau, Umwelt und Geomatik an der ETH Zürich
Bryan T. Adey, Professor am Departement Bau, Umwelt und Geomatik an der ETH Zürich | Bild: ETH Zürich

Wie sieht die Verkehrszukunft im Alpenraum insgesamt aus? ETH-Professor Adey erwartet, dass der Transport von Menschen und Gütern zunehmend auf Schienen und in Tunneln erfolgt. „Die Vorteile scheinen einfach die Kosten bei weitem zu überwiegen.“ Er zählt die Pluspunkte gegenüber dem Straßenverkehr auf: Eine geringere Umweltbelastung, eine geringere Beeinträchtigung der biologischen Vielfalt, eine höhere Widerstandsfähigkeit gegen Naturgefahren „und eine bessere Ästhetik“.