Für ihre Freier hieß sie Linda: Ladarat Chitphong, die zierliche Thailänderin mit den langen braunen Haaren. Das Geld, das sie als Callgirl verdiente, schickte sie nach Hause zu ihrer kleinen Tochter und zur Familie. Als Martin Sigg Ladarat fand, war sie in einen braunen Lederkoffer gepfercht, Kopf und Haare schauten heraus.

Sie lag in einer steilen Waldböschung nördlich von Märstetten. Martin Sigg ist Ermittlungschef der Kriminalpolizei. „So einfach hat er es sich gemacht“, ging es ihm durch den Kopf. Dreieinhalb Wochen hatten er und sein Team nach der jungen Frau gesucht. Allen war klar, dass sie nicht mehr lebte.

Martin Sigg, Ermittlungschef der Kriminalpolizei, und Hans-Jürg Langhard, der die Ermittlungen im Callgirl-Mord von Märstetten geführt hat.
Martin Sigg, Ermittlungschef der Kriminalpolizei, und Hans-Jürg Langhard, der die Ermittlungen im Callgirl-Mord von Märstetten geführt hat. | Bild: Donato Caspari

Knapp 20 Kilometer entfernt saß zur selben Zeit Mike A. in einer Zelle im Frauenfelder Kantonalgefängnis. Ein gelernter Maler, arbeitslos, der sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt. Er stand unter dringendem Verdacht, das Callgirl ermordet zu haben. Doch der 41-Jährige stritt dies beharrlich ab.

Seitdem sind 15 Jahre vergangen: Mike A. wurde nach Pöschwies verlegt, voraussichtlich wird er sein Leben lang inhaftiert bleiben. Mike A. ist der einzig lebenslang Verwahrte der Schweiz. Er gilt als Musterhäftling, fleißig, höflich, er pflegt den Garten, freut sich an den Pflanzen und den Tieren. Dass er Ladarat Chitphong getötet hat, leugnet er bis heute.

Chauffeur schrie Verdächtigen an: „Was hast Du mit ihr gemacht?“

„Er hat uns bei der Suche kein bisschen geholfen“, sagt Martin Sigg im Rückblick. Sigg hatte den Posten als Chef des Ermittlungsdiensts gerade erst angetreten, als der Chauffeur eines Zürcher Escort-Services die Polizei alarmierte. Er hätte Ladarat am Morgen des 27. August 2008 in Märstetten abholen sollen. Doch sie war nicht da, sie ging nicht ans Telefon und auch der Kunde, der sie die ganze Nacht gebucht hatte, war nicht zu erreichen.

Dem Chauffeur war klar: Da muss etwas passiert sein. Die Spur führte schnell zu Mike A. Er hatte das Callgirl zwar unter dem Namen des Vormieters seiner Wohnung bestellt und die Sim-Karte seines Handys ausgewechselt, doch die Vertuschung war eher dilettantisch. Durch einen glücklichen Zufall trafen der Chauffeur und Mike A. auf der Polizeistation Märstetten aufeinander. Der Chauffeur erkannte Mike A. sofort wieder als den Mann, dem er Ladarat am Abend zuvor übergeben hatte. Er schrie ihn an: „Was hast Du mit ihr gemacht?“

Das könnte Sie auch interessieren

Der Verdacht erhärtete sich, als die Polizei die Wohnung von Mike A. durchsuchte. Hier war zwar gründlich geputzt worden, dank moderner Technik entdeckten die Kriminaltechniker aber dennoch Spuren. Blut mit Ladarats DNA fand sich in der Dusche, im Gang, im Treppenhaus und auf dem Tank des Mofas von Mike A. Damit war für den jungen Ermittlungschef Sigg die Einarbeitungszeit vorbei. Doch er konnte auf sein erfahrenes Team zählen, angeführt von Hans-Jürg Langhard. Denn: „Ab da mussten wir definitiv von einem Gewaltverbrechen ausgehen.“

Sigg und Langhard: Beide sind schon äußerlich verschieden. Langhard wirkt ruhig und besonnen, doch seine Augen sind hellwach. Er ist der akribische Ermittler. Er sagt: „Was man in den ersten Tagen übersieht, kann man später fast nicht mehr nachholen.“ Sigg hielt dem Team den Rücken frei, er hat dafür gesorgt, dass Langhard alles bekommt, was er für seine Arbeit braucht. Und das war viel: Hundestaffeln, Polizeitaucher, Armeehelikopter, Suchtrupps.

Verdächtiger soll 1989 eine Frau in Kreuzlingen erstochen haben

Mike A. beteuerte weiter seine Unschuld. Er sei in jener Nacht auf Sauftour in Weinfelden gewesen und auf dem Heimweg auf einer Parkbank eingeschlafen. Selbst für die Spuren von Ladarats DNA an seinem Körper hatte er eine Erklärung. Sie stammten von einem früheren Besuch des Callgirls, seitdem habe er die Bettwäsche nicht mehr gewechselt. Als es immer enger für ihn wurde, sagte er gar nichts mehr. Langhard vermutet, Mike A. habe die Tat aus dem Gedächtnis gestrichen. „Er dachte, wenn er abstreitet, dass sie in der Wohnung war, könne man ihm nichts anhaben.“

Doch der Verdächtige hat eine Vergangenheit, die nichts Gutes ahnen lässt. Zweimal saß er wegen Vergewaltigung und Körperverletzung im Gefängnis. Er stand auch schon wegen Tötung vor Gericht. 1989 soll er in Kreuzlingen eine Frau erstochen haben, wurde aber aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Gewalttätig wurde Mike A. vor allem, wenn er trank, und das war oft der Fall.

Das könnte Sie auch interessieren

Tag um Tag verging ohne ein Lebenszeichen von Ladarat Chitphong. Den Flug nach Thailand, den sie gebucht hatte, trat sie nie an. „Es ist ihr etwas zugestoßen“, sagten ihre Freundinnen. Nach einer Woche ließ sich eine Zimmernachbarin Ladarats Portrait in die Haut tätowieren, weil sie nicht mehr daran glaube, sie wiederzusehen.

Sigg sagt: „Wir hatten eine vermisste Frau, Hinweise auf ein Gewaltverbrechen, einen Verdächtigen, aber keine Spur vom Opfer.“ Polizisten durchwühlten die Müllsäcke von Märstetten. Ohne Ergebnis. Parallel dazu wurden die Weiher in der Umgebung abgesucht, dann die Schächte, die Maisfelder. Sie seien personell an die Grenzen gekommen. „Andere Arbeit blieb liegen, weil wir Leute für die Suche abgezogen haben.“

Nach Wochen werden ihre sterblichen Überreste endlich gefunden

Es kam zu ungewollten Zwischenfällen. So wurde bei einem Suchflug ein Scheunendach beschädigt. Ein Feld wurde verwüstet. Erschwerend kam hinzu, dass sich eine Kollegin von Ladarat erst nach ein paar Tagen an Ladarats zweites Handy erinnerte. Als die Polizei es zu orten versuchte, war das Signal bereits zu schwach. Langhard stellte sich Abend für Abend dieselbe Frage: „Was habe ich übersehen?“

Gefundene Schuhe wurden bei der Polizei abgegeben, Taschen, Kleidungsstücke. Doch nichts, was der Vermissten gehört hätte. Der entscheidende Anruf kam am Sonntagabend, 21. September, von einem Pilzsammler. Er hatte in einer Waldböschung etwa einen Kilometer von Märstetten entfernt eine Handtasche und Schuhe gefunden. In der Tasche lagen das Handy und der Ausweis von Ladarat Chitphong.

Das könnte Sie auch interessieren

Aber wo war sie? Noch am selben Abend machte sich ein erster Suchtrupp auf den Weg, musste aber erfolglos abbrechen. Für den nächsten Morgen war eine große Suchaktion geplant. Davor inspizierten Sigg und der Polizist, der die Suche leiten sollte, das steile Tobel. Und plötzlich lag er vor Sigg auf dem Waldboden, der Koffer mit der toten Ladarat.

Die Rechtsmediziner stellten später fest, dass sie mit drei Stichen im Bereich des Brustbeins getötet worden war. Mike A. stritt weiter jede Schuld ab. Wieder stellten die Ermittler seine Wohnung auf den Kopf und landeten erneut einen Treffer. Etwa 150 Meter vom Koffer entfernt lag im Wald ein Plastikbeutel mit persönlichen Sachen von Ladarat.

Das Urteil: Freiheitsstrafe und lebenslange Sicherungsverwahrung

In der Wohnung fanden die Polizisten die Rolle, von welcher der Plastikbeutel abgerissen worden war. Diese Art Beutel gab es nicht im Handel zu kaufen. Sie stammten von einer Fabrik, in der die Ex-Freundin von Mike A. gearbeitet hatte. Mike A. gab zwar zu, dass er solche Beutel besaß, er habe sie aber noch nie benutzt.

Diesen Fall zu klären war ein Kraftakt, nicht nur für Martin Sigg und Hans-Jürg Langhard. Kantonspolizei, Untersuchungsbehörden und schließlich die Gerichtsmedizin arbeiteten Hand in Hand. Sigg sagt: „Für so etwas braucht es alle.“ Ladarat Chitphong war 30 Jahre alt, als sie mit drei Messerstichen getötet wurde. Sie konnte ihre Träume nicht mehr leben. Sie hat auch ihre Tochter, die heute eine junge Frau ist, nicht aufwachsen sehen.

Das könnte Sie auch interessieren

Am 7. Oktober 2010 sprach das Bezirksgericht Weinfelden Mike A. schuldig der vorsätzlichen Tötung und der mehrfachen qualifizierten sexuellen Nötigung. Es verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 20 Jahren und anschließender lebenslanger Sicherheitsverwahrung. Mike A. erschien zur Verhandlung mit wildem Bart und schulterlangen Haaren, als wollte er sein Gesicht hinter den Haaren verstecken. Den Bart rasierte er sich nach dem Prozess wieder ab.

Ida Sandl ist Reporterin unserer Partnerzeitung „Thurgauer Zeitung“.