Es war der 10. Februar 1998, ein Dienstag, als sich das Berufsleben der Konstanzer und Kreuzlinger Zollbeamten von Grund auf änderte. Danach würde nichts mehr so sein wie vorher. Doch der Tod zweier Menschen sollte nicht umsonst gewesen sein.

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Am Tag danach war Zöllner Nikolaus Spießer schon wieder im Dienst. „Halb unter Druck, halb gewollt“, wie er gegenüber dem SÜDKURIER bei einem Treffen im Jahr 2018 sagt. „Unsere Verwaltung wurde damals kalt erwischt und hatte kein Rezept, wie wir damit umgehen sollten.“

Jeder Beamte musste seinen eigenen Weg finden, das zu verarbeiten, was eine ganze Stadt in Schockstarre versetzte: Den Tod von zwei Kollegen, die während der Ausübung ihrer Pflichten brutal und skrupellos erschossen wurden.

Zollhauptsekretär Thomas Lachmaier (Bild) und sein Schweizer Kollege Stefan Jetzer starben am 10. Februar 1998 durch Schüsse aus einem ...
Zollhauptsekretär Thomas Lachmaier (Bild) und sein Schweizer Kollege Stefan Jetzer starben am 10. Februar 1998 durch Schüsse aus einem Maschinengewehr. | Bild: Archiv Stadelhofer | SK-Archiv

Der Schweizer Stefan Jetzer sollte an jenem Tag eigentlich frei haben. „Bei der Trauerfeier erzählte der Pfarrer, dass er für einen Kollegen eingesprungen ist, damit der mit seinem Sohn zum Eishockey gehen kann“, erzählt der Konstanzer Polizeibeamte Martin Johne im Jahr 2018. Jetzer hinterließ seine Ehefrau und zwei Kinder.

Der deutsche Zollbeamte Thomas Lachmaier war weder verheiratet noch hatte er Kinder. Der 41-Jährige war sehr beliebt und stand bei seinem Tod kurz vor der Beförderung.

Was passierte am Grenzübergang?

Um 10.30 Uhr will der 29-jährige Italiener Mario Telatin aus Arbon im Thurgau den Grenzübergang Klein Venedig überqueren. So wie in den Monaten zuvor schon mehrmals. Er soll kein Unbekannter gewesen sein, hieß es damals aus Kreisen der Ermittler. Ein Heizungsbauer, beliebt in der Nachbarschaft seines Wohnortes, aber laut Aussagen seiner Freunde mit wenig Selbstvertrauen und ohne Erfolg bei der Frauenwelt.

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Der Deutsche Thomas Lachmaier und der Schweizer Stefan Jetzer haben an diesem Tag Dienst. An Klein Venedig läuft seit mehreren Monaten das viel beachtete Projekt der gemeinsamen Grenzabfertigung beider Länder. Thomas Lachmaier hält den Mitsubishi an und fragt nach Pass und mitgeführten Waren. Eigentlich Routine. Jedoch nicht an diesem Tag. Thomas Lachmaier entdeckt eine Sporttasche mit Munition, er ruft telefonisch nach Verstärkung.

Das ist der Moment, so wird später rekonstruiert, in dem der Täter eine automatische Waffe zückt und den Zöllner kaltblütig erschießt. 34 Schuss gibt er aus einer Pistole vom Typ Glock 18 ab. Dem herbei eilenden Stefan Jetzer gelingt es zwar noch, seine Dienstwaffe zu ziehen und einen Schuss auf den Täter abzugeben, aber auch er hat keine Chance mehr.

Der Todesschütze richtet sich selbst

Der Italiener flieht nach seinen tödlichen Schüssen mit seinem Auto Richtung Innenstadt. Nach 400 Metern muss er am geschlossenen Bahnübergang bei der damaligen Eisenbahnbrücke stoppen. Auf der anderen Seite des Übergangs sieht er Polizeiautos mit Blaulicht. Der 29-Jährige erkennt offenbar seine aussichtslose Situation und schießt sich in den Kopf.

(Archivbild von 2018) Nikolaus Spießer steht dort, wo sich der Täter selbst in den Kopf schoss. Rechts das Stellwerk. Links befindet ...
(Archivbild von 2018) Nikolaus Spießer steht dort, wo sich der Täter selbst in den Kopf schoss. Rechts das Stellwerk. Links befindet sich die neue Brücke, wo damals der Bahnübergang war. | Bild: Oliver Hanser | SK-Archiv

„Wir wussten nicht genau, was los war“, erinnert sich Nikolaus Spießer, der damals zum Grenzübergang gerufen wird, zwanzig Jahre nach der Tat. Er war damals schon Sport- und Schießausbilder beim Zoll.

„Von Weitem habe ich dann einen Menschen in einem stehenden Auto gesehen, den blutenden Kopf zur Seite geklappt.“ Ab diesem Moment befindet sich der Zöllner in einem Tunnel, wie er sagt: „Ab hier funktionierst du nur noch rational“.

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Er holt mit Kollegen die blutüberströmte Person aus dem Auto. Oben auf dem Stellwerkturm steht der zuständige Bahnbeamte und beobachte die Szene. „Wir haben später erfahren, dass er die Schranke extra unten ließ, da er ahnte, dass etwas nicht stimmen würde.“ Womöglich hat er damit ein weiteres Blutbad verhindert.

Außerdem warnt er zwei BGS-Beamte, die laut Polizei zufällig die Brücke Richtung Hafen überqueren, vor dem bewaffneten Mann im Mitsubishi. „Wer weiß, ob er nicht auch auf diese beiden Menschen in Uniform geschossen hätte?“, fragt sich Martin Johne, damals Dezernatsleiter bei der Polizei.

(Archivbild von 1998) Kollegen legten bei der Trauerfeier Blumen am Tatort ab.
(Archivbild von 1998) Kollegen legten bei der Trauerfeier Blumen am Tatort ab. | Bild: Erich Gropper | SK-Archiv

„Thomas schlief nicht. Er war tot.“

Eine ältere Dame kommt zu Spießer und seinen Kollegen, die den Täter erstversorgen. „Sie sagte, dass drüben am Zoll noch zwei Menschen liegen würden“, erinnert er sich. Die Beamten laufen Richtung Klein Venedig. „Da haben wir Thomas und den Schweizer Kollegen gesehen“, sagt Nikolaus Spießer. Die Bilder laufen wie in einem Film vor ihm ab.

„Thomas sah aus, als würde er schlafen. Doch Thomas schlief nicht. Er war tot.“ Die damalige Freundin des Opfers ist auf dem Weg zum Zollgebäude, um den Lebensgefährten nach Dienstschluss abzuholen. „Einer von uns musste ihr sagen, dass er nicht mehr war“, erzählt Nikolaus Spießer. „Ein unglaublich trauriger Tag. Das beschäftigt einen noch heute ab und zu.“

Ermittler eilen zum Tatort

Martin Johne hatte 1998 Dienst im neu bezogenen Gebäude am Benediktinerplatz. Zusammen mit allen anderen zur Verfügung stehenden Beamten machte er sich umgehend auf den Weg Richtung Klein Venedig. Da sie von der geschlossenen Schranke wussten, eilten sie durch die Unterführung der Markstätte, vorbei am Hafen zum Wagen des Täters. Kriminaltechniker waren schon im Einsatz, sicherten Spuren.

(Archivbild von 1998) In diesem roten Mitsubishi schoss sich der Täter in den Kopf.
(Archivbild von 1998) In diesem roten Mitsubishi schoss sich der Täter in den Kopf. | Bild: Claudia Rindt | SK-Archiv

Martin Johne und sein Team gingen weiter zum Übergang. „Wir haben erste Zeugen befragt, Spuren gesichert, Waffen sicher gestellt oder Lagepläne gemacht“, berichtet er. „Der Fall hat uns persönlich sehr beschäftigt, da dort zwei erschossene Kollegen am Boden lagen. Thomas Lachmaier ist wie ich im November 1957 geboren. Das führt dir vor Augen, wie schnell es gehen kann.“

Im Mitsubishi fanden Ermittler mehrere Pistolen samt Munition, drei Maschinenpistolen, zwei Munitionskisten, Sprengstoff und Handgranaten. Im Nachgang waren noch umfangreiche Ermittlungen zur Herkunft der Waffen und Handgranaten und zum Motiv des Täters notwendig. Die Gesamtermittlungen dauerten rund drei Monate. Das Verfahren wurde von der Staatsanwaltschaft schließlich wegen des Todes des Tatverdächtigen eingestellt.

Motiv des Täters konnte nie geklärt werden

Es gibt mehrere Theorien, was der Täter ursprünglich vorhatte. Zunächst wurde der Verdacht geäußert, der Italiener sei ein Waffenschmuggler. Waffennarr traf es dann eher, er hatte eine riesige, legal erstandene Sammlung in seiner Wohnung. Er war spielsüchtig, hatte hohe, stetig wachsende Schulden und ging im Konstanzer Jackpot-Casino ein und aus. Kurz nach seinem Grenzübertritt sollte wie jeden Morgen der Geldbote vors Casino fahren.

Womöglich hatte der Täter vor, den Boten auszurauben. Oder hatte er gar einen Rachefeldzug geplant und wollte das Gebäude am Bahnhof mit seinen Waffen dem Erdboden gleich machen? Genaue Antworten erhielten die Ermittler nie. Der Italiener wurde ins Krankenhaus eingeliefert.

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Maschinen hielten ihn am Leben, er war bereits hirntot. Sein Bruder stimmte einer geplanten Organentnahme zu. „Vielleicht hilft sein Herz ja einem anderen“, soll er zu den Ärzten gesagt haben, als seine Herz-Lungen-Maschine direkt nach der Transplantation abgeschaltet wurde.

Thomas Lachmaier und Stefan Jetzer starben am 10. Februar 1998 in Ausübung ihrer Pflichten. Viele Zöllner denken am Jahrestag an ihre toten Kollegen. Auch am Tatort. Denn dort, wo die Beamten getötet wurden, steht ein Gedenkstein, der an die beiden Zöllner erinnert.

Nikolaus Spießer steht vor dem Gedenkstein, der an die erschossenen Kollegen Thomas Lachmaier und Stefan Jetzer erinnert. Hier stand ...
Nikolaus Spießer steht vor dem Gedenkstein, der an die erschossenen Kollegen Thomas Lachmaier und Stefan Jetzer erinnert. Hier stand noch 1998 das mittlerweile entfernte Zollhaus, rechts neben dem Gedenkstein starb Thomas Lachmaier. | Bild: Oliver Hanser | SK-Archiv

Dieser Artikel erschien erstmals im Februar 2018. Anlässlich des 25. Jahrestags der tödlichen Schüsse wurde diese überarbeitete Version veröffentlicht.

10. Februar 1998: Zollbeamte in Sachsen getötet

Nicht nur in Konstanz spielen sich an diesem Tag dramatische Szenen ab. Kurz nach drei Uhr morgens fährt der Linienbus von Alma Ata nach Frankfurt/Main am deutsch-polnischen Grenzübergang Ludwigsdorf bei Görlitz vor. An Bord: 22 Passagiere – zehn Frauen, zehn Männer, zwei Kinder. Die Zöllner Ralph Schulze (34) und Thomas Haupt (30) steigen ein.

Schulze steht im Heck des Busses, hebt gerade die Arme, um ein Lüftungsgitter zu kontrollieren – da reißt der Kasache Viktor Diner (38) ihm die Pistole aus dem Holster und schießt sofort wild um sich. Je zwei Kugeln aus der Sig-Sauer P6 treffen die Zöllner. Ein Buspassagier erleidet einen Steckschuss im Oberschenkel, ein anderer einen Lungendurchschuss.

Thomas Haupt kann noch zurück feuern und sich aus dem Bus retten. Diner springt durch eine Fensterscheibe auf die Straße. Schwer verletzt versucht er zu fliehen – doch Beamte des Bundesgrenzschutzes (BGS), alarmiert von den Schüssen, können ihn stellen.

Ralph Schulze stirbt noch im Bus. Sein Kollege Thomas Haupt erliegt seinen schweren Verletzungen wenige Minuten später. Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Görlitz: „Der Mann soll schon die ganze Bus-Fahrt über auffällig und sehr aggressiv gewesen sein. Vermutlich ist er psychisch krank.“ Buspassagiere hatten den Mann bis zur Grenze mit Schlaftabletten ruhiggestellt.

Theo Waigel (CSU), der damalige Bundesfinanzminister, erklärt, er sei erschüttert über die Tat und den Tod der beiden sächsischen Zollbeamten Ralph Schulze und Thomas Haupt. „Dies ist der schwerste Zwischenfall in der Nachkriegsgeschichte des deutschen Zolls.“

Der Vorsitzende des Bundes der Deutschen Zollbeamten, Heinz Schulze, sagt: „Wir stehen vor den Auswirkungen der unseren Kolleginnen und Kollegen tagtäglich begegnenden Gewaltbereitschaft, die im wahrsten Sinn des Wortes grenzenlos ist.“

Zu diesem Zeitpunkt ahnt noch keiner, dass die nächste Tragödie ihren Lauf nimmt. Sieben Stunden später das zweite Blutbad – diesmal in Konstanz am Grenzübergang Klein Venedig.