Herr Seitz, nehmen wir eine Frau Anfang 40. Wenn sie jeden Abend gemütlich als Genießerin ein Viertele Wein trinkt, gefährdet sie damit schon ihre Gesundheit?
Eindeutig ja. Doch nicht nur die Menge und Regelmäßigkeit des Alkoholkonsums spielen eine Rolle, sondern eine Anzahl individueller Faktoren bestimmt das Risiko für Organschäden mit. Alkohol verursacht und verschlechtert 200 Krankheiten. In jedem Fall hat diese Frau ein signifikant höheres Risiko, eine alkoholische Lebererkrankung zu entwickeln oder bestimmte Krebserkrankungen.
Trifft das auf jede Frau dieses Alters zu, die sich so verhält?
Nein. Nicht jede, die sich so verhält, erkrankt auch. So spielen genetische Faktoren eine Rolle, wie der Alkohol verstoffwechselt wird und ob die Frau bestimmte Gene hat, die sie dazu prädisponieren. Wenn sie zusätzlich raucht, hat sie eindeutig ein höheres Risiko, einen Krebs im Mund, im Kehlkopf und in der Speiseröhre zu bekommen. Hat sie andere Lebererkrankungen, von denen sie nichts weiß, oder ist übergewichtig, nimmt zusätzlich Vitamin A oder andere Medikamente ein, dann hat sie ein höheres Risiko zu erkranken.
Was versteht man unter einer alkoholischen Lebererkrankung?
Das ist die häufigste Lebererkrankung in Deutschland und in Europa. Die Hälfte aller Leberzirrhosen, also Leberverhärtungen, kommt durch Alkohol zustande. In Europa gibt es eine Million Tote im Jahr durch eine Lebererkrankung und eine halbe Million durch die alkoholische Lebererkrankung.
Wie schnell bildet sich eine solche alkoholische Lebererkrankung heraus und was passiert dabei genau?
Bei Männern, die über Jahre regelmäßig 30 bis 40 g Alkohol pro Tag trinken, was zirka einem Viertelliter Wein entspricht (bei der Frau reicht schon die Hälfte), verfettet zunächst die Leber. Wenn weitergetrunken wird, kann sie sich entzünden. Wir sprechen dann von einer sogenannten alkoholischen Hepatitis. Wird weitergetrunken, kann eine bindegewebige Vernarbung, eine Leber-Fibrose, und schließlich eine Leber-Zirrhose, entstehen. Die Leber verhärtet schließlich, Leberzellen gehen zugrunde, und sie kann nicht mehr richtig arbeiten: Das ist dann eine Leberzirrhose. Das Blut wird in die Speiseröhre umgeleitet. Dort entstehen Krampfadern, die bluten können. Die Patienten können durch eine solche Krampfaderblutung verbluten, wenn die Blutung nicht sofort durch eine Endoskopie gestoppt werden kann. Chronische Trinker haben durchschnittlich nur eine Lebenserwartung von 58 Jahren.
Dass diese Frau, von der wir sprachen, jetzt den Alkohol ganz sein lässt, ist eher unrealistisch, wenn sie gern mal einen Schluck Wein trinkt. Was würden Sie ihr raten?
Ich würde ihr raten, eine Woche lang keinen Alkohol zu trinken, um zu sehen, ob sie ohne Alkohol leben kann. Wenn jemand über längere Zeit jeden Abend ein Viertele Wein trinkt, kann es gut sein, dass er eine Abhängigkeit entwickelt und alkoholkrank wird. Zusätzlich würde ich ihr raten, beim Arzt ihre Leberwerte bestimmen zu lassen. Wenn die Leber gesund ist, kann sie schon mal ein Gläschen trinken, aber nicht jeden Tag. Jeden Tag trinken ist gefährlich. Man sollte mindestens an zwei Tagen pro Woche die Finger ganz vom Alkohol lassen, damit sich die Leber wieder regenerieren kann.
Wie wirkt Alkohol und was macht ihn so gefährlich?
Alkohol wird vor allem in der Leber, aber auch in anderen Organen durch ein Enzym abgebaut. Dabei entsteht ein Zwischenprodukt, das Acetaldehyd, das hochgiftig ist. Acetaldehyd bindet an Eiweiße und an die Erbsubstanz mit schwerwiegenden Folgen. Acetaldehyd kann leicht abgebaut werden zu Essigsäure, die nicht giftig ist. Geschädigte Lebern schaffen das aber nicht mehr. Beim Abbau des Alkohols entstehen außerdem Freie Radikale. Das sind aggressive kleine Moleküle, die auch die Eiweißkörper und die DNA zerstören.
Wann, würden Sie sagen, ist die kritische Schwelle erreicht, dass jemand in die Sucht abrutscht?
Das ist dann der Fall, wenn jemand jeden Tag Alkohol trinken muss, immer an Alkohol denkt, die Dosis weiter erhöht und der, wenn er keinen Alkohol zu sich nimmt, ein Entzugssyndrom entwickelt – also unruhig wird, zittert und schwitzt. Ein Alkoholabhängiger vernachlässigt dann auch seine sozialen, beruflichen und privaten Kontakte. Alle Sinne sind auf Alkohol ausgerichtet. Ich habe Patienten, die, wenn sie keinen Alkohol haben, unter anderem auch schon mal Kölnisch Wasser getrunken haben.
Wer sind Ihre Patienten?
Meine Patienten sind einerseits Patienten, die zum Alkoholentzug kommen, also Alkoholabhängige, andererseits aber auch Patienten, die eine schwere alkoholische Lebererkrankung haben. Dabei muss man nicht unbedingt abhängig sein. Diese Patienten können mit Alkoholtrinken aufhören, ohne eine Entzugssymptomatik zu entwickeln. Das bezeichnen wir dann als Alkoholmissbrauch, aber nicht als Sucht.
Aus welchen Schichten kommen sie?
Eigentlich aus allen Schichten. Anders als früher haben wir vermehrt Patienten aus der intellektuellen Mittelschicht. Sie machen abends eine Flasche Wein auf, trinken sie und freuen sich daran.
Spielt es grundsätzlich eine Rolle, welche Art von Alkohol man trinkt, für die Auswirkungen, die Sie beschreiben?
Nein, außer, dass Sie, wenn Sie 40-prozentige Alkoholika trinken, also zum Beispiel Schnäpse, ein noch größeres Risiko haben, im Mundbereich, Rachen, am Kehlkopf und in der Speiseröhre einen Krebs zu entwickeln. Das gilt allerdings nur, wenn größere Mengen konsumiert werden.
Wenn ein Jugendlicher in der Pubertät öfter mal am Wochenende sturzbetrunken nach Hause kommt, wie sehr müssen sich seine Eltern dann Sorgen um ihn machen?
Dieses sogenannte Komatrinken oder Bingetrinken, was Jugendliche auch gerne nach dem Abitur machen, ist hochgefährlich. Sie können bewusstlos werden, dabei erbrechen, das Erbrochene in die Lunge aspirieren und sterben. Bei chronischem Missbrauch gehen Hirnzellen zugrunde. Wenn Jugendliche im Alter von 14 Jahren regelmäßig am Wochenende solche Abstürze haben, haben sie ein hohes Risiko, später abhängig zu werden. Hinzu kommt, dass das Risiko, an Krebs zu erkranken, steigt: So haben Mädchen, die früh Alkohol trinken, ein deutlich erhöhtes Risiko, im Alter von 35 bis 40 Jahren Brustkrebs zu entwickeln.
Fragen: Birgit Hofmann
Zur Person
Helmut K. Seitz, geboren 1950, ist Ärztlicher Direktor und Chefarzt am Krankenhaus Salem und St. Vincentius in Heidelberg. Als Direktor des Alkoholforschungszentrums der Universität Heidelberg beschäftigt er sich mit dem Alkoholstoffwechsel, der Toxizität von Alkohol, alkoholischen Lebererkrankungen und der Tumorentstehung durch Alkohol. Soeben ist sein Buch erschienen:
Helmut K. Seitz: „Die berauschte Gesellschaft“, Kösel-Verlag, 169 S., 19 €