Frau Bösche, was bedeutet es eigentlich, hochbegabt zu sein?
Da sind sich die Wissenschaftler nicht ganz einig in der Definition. Einig ist man sich aber darin, dass es sich um eine weit über dem Durchschnitt liegende intellektuelle Leistungsfähigkeit handelt. Um eine weit überdurchschnittliche Begabung.
Gibt es ein spezielles Alter, ab dem sich Hochbegabung bemerkbar macht?
Jeder empfindet sein Kind als völlig normal. Erst wenn es die Vergleichbarkeit mit anderen Kindern gibt, fällt auf, wenn es in manchen Bereichen überdurchschnittlich ist. Im Grunde sind hochbegabte Menschen eigentlich nicht auffällig. Es sei denn, man hat die Vergleichbarkeit.
Also dann im Kindergarten oder in der Schule.
Ja, im Grunde fällt es häufig schon im Kindergarten auf. Oder man erkennt in der Schule rückblickend, dass es Anzeichen gegeben hat.
Woran erkenne ich als Elternteil, wenn mein Kind hochbegabt ist?
Die Kinder haben eine sehr starke intrinsische Motivation. Also den Willen, aus sich heraus lernen zu wollen. Da bekommen sie im Grunde nicht genug. Sie tauchen regelrecht in das Thema ein, das sie interessiert.
Und das Thema Underachiever?
Es kommt dann zu einem Underachiever, wenn ein Kind über längere Zeit in seinen Möglichkeiten ausgebremst wird, weil das nicht erkannt wird und es sich einfach nicht nach seinen Bedürfnissen entwickeln kann. Und das frustriert. Das ist zum Beispiel in der Schule so, wenn das Kind vorauseilt und die Lehrerin oder der Lehrer versucht, alle beisammenzuhalten. Dann kann es passieren, dass sich ein Underachiever entwickelt. Jemand, der frustriert aufhört, aufgibt und nicht mehr mitmacht. Im schlimmsten Fall kann das zu Depressionen führen.
Welche Entscheidungen müssen Eltern treffen, wenn sie erkennen, dass ihr Kind hochbegabt ist?
Aus meiner eigenen Beratungserfahrung kann ich sagen: Es ist wunderbar, wenn ein Elternteil anruft und sagt: ‚Mein Kind ist im Kindergarten und fällt auf. Was können wir tun?‘ Das ist schön rechtzeitig, bevor das System Schule losgegangen ist. Dann kann man aufklären, mit den zukünftigen Lehrerinnen und Lehrern reden und Möglichkeiten besprechen, was im Unterricht machbar und umsetzbar ist, um das Kind entsprechend zu fördern. Ideal ist, wenn Lehrerinnen und Lehrer differenzierte Unterrichtsmaterialien für die Kinder haben, die im „Normaltempo“ lernen, für die, die etwas länger brauchen und für die, die sich schneller entwickeln. Da gibt es ergänzendes Schulmaterial, das anstelle von Wiederholungen verwendet werden kann. Wiederholungen sind sehr frustrierend, wenn man die Inhalte schon verstanden hat.
Was ist mit speziellen Hochbegabtenklassen?
Die gibt es in der Grundschule bisher nicht. Das heißt, irgendwie müssen die Kinder die Grundschule absolvieren. Hier kann zum Beispiel die Maßnahme der Hospitation hilfreich sein. Das Kind darf für einen Zeitraum von beispielsweise drei Wochen in der nächst höheren Klasse hospitieren, um zu schauen, ob es sich dort wohler fühlt und besser passt. Erst ab der weiterführenden Schule gibt es dann sogenannte Hochbegabtenzüge. In Baden-Württemberg müssen dafür mindestens 16 Schüler einen vorgegebenen IQ-Test bestehen. Wird diese Zahl nicht erreicht, gehen die Kinder ganz regulär in den Gymnasien zur Schule, oder sie kümmern sich in einzelnen Fällen zum Beispiel um die Aufnahme im Landesgymnasium für Hochbegabte in Schwäbisch Gmünd.
Soll das Kind bei den Entscheidungen einbezogen werden?
Ja, immer mit dem Kind zusammen. Es handelt sich in der Regel um sehr durchsetzungsstarke Kinder mit einem klaren und sehr reflektierten Kopf. Das kann man nur gemeinsam besprechen, erklären und im individuellen Fall entscheiden, was für dieses Kind das Beste ist und was das Kind möchte. Es geht um sie und ihre Zukunft und da sollten sie mit einbezogen werden.
Welche Möglichkeiten haben überforderte Eltern?
Wenn es um die Schule geht, empfinde ich es als hilfreich, einen Coach hinzuzuziehen. Früher hätte man wohl Nachhilfelehrer gesagt. Jemand, der motiviert, zeigt, wie es geht, und Hintergründe sowie Zusammenhänge erklärt. Wenn es um Eltern geht, die nicht weiter wissen, stehen wir als Gesprächspartner zur Verfügung. Wir haben häufig den Fall, dass das Kind nicht erkannt wird und vor lauter Langeweile beispielsweise unruhig in der Klasse ist und seine Mitschülerinnen und Mitschüler stört oder ganz im Gegenteil, verträumt aus dem Fenster schaut, anstatt dem Unterricht zu folgen. Da muss man sehen, welchen Grund das hat. Wir versuchen, mit Aufklärung zu helfen wo wir können, damit ein unglückliches Kind wieder glücklich wird.
Fragen: Tobias Lange