Aus jedem Jahr bleiben Bilder hängen, an die wir uns dauerhaft erinnern werden. Mal sind sie ganz konkret wie die Flut im Ahrtal oder der Abgang der ewigen Kanzlerin, die den Farbfilm vergessen hatte.
Manchmal sind sie aber auch eher diffus und unkonkret wie das Bild des zaudernden Politikers, der in der Pandemiebekämpfung nicht weiß, welche Entscheidung die richtige ist, und deshalb lieber gar keine trifft. Ein Bild, das sich zwischen Spätsommer und heute wieder einmal entwickelt hat.
Schon im September hatten Virologen davor gewarnt, dass im Herbst abermals weitreichende Eingriffe in unser Alltagsleben erforderlich sein werden, um die Ausbreitung des Virus in den Griff zu bekommen.
Wenn, ja wenn nicht gravierende Maßnahmen ergriffen würden. Geschehen aber ist bis zum ersten Schneefall gar nichts. Und so finden wir uns heute trotz aller Warnungen in der vierten Corona-Welle wieder, die volle Krankenhäuser und überlastete Menschen zur Folge hat.
Die politische Elite zaudert
Und auch in dieser prekären Lage zaudert unsere politische Elite weiter, denn zu ergreifende Maßnahmen müssen sorgsam abgewogen werden, um – wie man hört – die Spaltung der Gesellschaft nicht voranzutreiben. Aber: Von welcher Spaltung wird da eigentlich geredet?

Zunächst einmal dürfen wir uns durchaus gerne daran erinnern, dass wir in einer pluralistischen Gesellschaft leben, die unterschiedliche Auffassungen nicht nur zulässt und einfordert, sondern sie auch verfassungsrechtlich schützt.
Unsere Gesellschaftsstruktur lebt gerade vom Dissens und dem Austausch widerstreitender Interessen – wer Spaltung fürchtet, wünscht sich möglicherweise so etwas wie kollektive Einigkeit. Und die gab es noch nie und nicht einmal im untergegangenen deutschen demokratischen Einheitsstaat. Einigkeit ist Utopie.
Häufig ist Polarisierung gemeint
Spaltung ist derzeit vielmehr ein in Mode gekommener Begriff, den manche Verantwortungsträger fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Aber warum eigentlich? Es lohnt ein Blick auf das Bild, das die Verwendung des Begriffs auslöst.
Wer Spaltung meint, assoziiert damit häufig ein „hier und dort“, ein „wir und ihr“ und damit ein „halbe, halbe“. Doch die deutsche Bevölkerung ist ganz sicher nicht in zwei gleich große Lager geteilt, die in ihren Auffassungen klar voneinander abgrenzbar wären. Und schon gar nicht in der Bewertung der aktuellen Corona-Entscheidungen und -Maßnahmen.
Und zum anderen wird der Begriff der Spaltung zwar häufig verwendet, aber es ist Polarisierung gemeint, und das ist etwas anderes. Grob versteht man unter Polarisierung in politischen Zusammenhängen hart geführte Kontroversen, die starke Meinungsunterschiede sichtbar machen.
Eine Minderheit versucht die Stimmung aufzuheizen
Also exakt das, was wir in unserem Land mit Blick auf die Corona-Politik beobachten können. Eine Spaltung der Gesellschaft im Sinne einer Aufteilung in zwei gleich große Gruppen ist da nicht hinterlegt und wäre auch nicht belegbar.
Vielmehr ist es so, dass eine Minderheit derzeit versucht, die Stimmung im Land aufzuheizen und das Bild einer gespaltenen Gesellschaft zu erzeugen.
Diese Minderheit will mit Ängsten, Falschinformationen und Opferattitüde die Mehrheit beeinflussen, die Tag für Tag mit vorsichtigem Verhalten und dem Befolgen aller notwendigen Maßnahmen ihr Einverständnis zur Bewältigung der Krise abgibt.
Langsam ist genug geredet
Diese Mehrheit ist nicht laut, sie ist leise und sie schweigt meistens. Deshalb wird diese sogenannte schweigende Mehrheit auch gerne als Masse ohne Gestalt diskreditiert, die rückgratlos und obrigkeitshörig sei.
Doch abgesehen davon, dass man der Obrigkeitshörigkeit in Deutschland seit den 60er-Jahren weitgehend erfolgreich den Garaus gemacht hat, schrieb ich vor einem Jahr an dieser Stelle vom Lob an diese von mir aus schweigende Mehrheit.
Denn sie ist es, die unsere Gesellschaft trägt und stabilisiert und dafür sorgt, dass notwendige Entscheidungen nicht nur ergriffen, sondern auch mitgetragen werden – so sehr diese auch nerven. Denn diese Mehrheit glaubt an so etwas wie die individuelle Verantwortung für die Gesellschaft und hat ein Gefühl dafür, dass Egozentrik kein tragfähiges Gerüst für das Miteinander in der Bevölkerung ist.
Die Minderheit bloß nicht reizen!
Wer mit der „Spaltung der Gesellschaft“ argumentiert und sich in Zurückhaltung übt, erhebt eine Minderheit zu etwas Größerem und erweckt den Eindruck, dass er sich davor fürchtet, diese Minderheit zu reizen. Die verwendete Kommunikationsstrategie setzte lange auf Ausgleich und den wohlmeinenden Austausch von Gründen und Schlussfolgerungen. Doch das Ende dieser Strategie scheint erreicht.
Niemand kann ernsthaft behaupten, dass nicht auf allen Kanälen und Ebenen das Gespräch mit Corona-Skeptikern, Impfgegnern und -verweigerern gesucht worden wäre.
Wer aufrichtig wollte, konnte sich umfassend über die wissenschaftlich abgesicherte Faktenlage informieren. Eine vom Bundesgesundheitsministerium in Auftrag gegebene Umfrage ergab im Herbst, dass sich 89 Prozent der ungeimpften Menschen in Deutschland nicht mehr umstimmen lassen und sie bei ihrer Entscheidung bleiben werden.
Angesichts dieses Umstands, schrieb der ehemalige Ethikratsvorsitzende Peter Dabrock, scheint der Widerstreit der Positionen erschöpft zu sein. Was übersetzt so viel heißt wie: Es ist genug geredet.
Die eigene Freiheit endet da, wo die der anderen anfängt
Beim Thema Impfen überschneiden sich, das ist das Dilemma, zwei Dimensionen: die persönliche und die gesellschaftliche. Diejenigen, die sagen, eine Impfung sei eine zutiefst intime und damit eine persönliche Entscheidung, haben recht. Und diejenigen, die sagen, beim Impfen gehe es um den Schutz von anderen, haben ebenfalls recht.
Doch die individuelle Freiheitsdimension endet in unserer Verfassung an dem Punkt, an dem sie die Freiheit Dritter berührt. Abgesehen davon, dass es innerhalb einer Gesellschaft isolierte Individuen gar nicht geben kann.
Kein Individuum ist in unserer Gemeinschaft ohne das Miteinander mit anderen Menschen länger als ein paar Wochen überlebensfähig. Spätestens bei der Nahrungssuche geht es irgendwann in einen Supermarkt, den andere eingeräumt haben. Es braucht also immer die Interaktion und Verbindung mit anderen Individuen.
Impfen ist keine Privatsache
Deshalb liegt die aktuelle Ethikratsvorsitzende Alena Buyx richtig, wenn sie sagt, dass das Impfen zwar eine persönliche Entscheidung, aber keine Privatsache sei, weil die Folgen einer Impfentscheidung für die Gesellschaft eben erheblich sind – sowohl für die Belegung der Krankenhausbetten als auch für das Absagen notwendiger Operationen, weil Pflegepersonal auf Covid-Stationen gebunden ist.
Sowohl für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen im Homeschooling als auch für die Schwierigkeiten von Arbeitnehmern in Kurzarbeit und Homeoffice. Von den Langzeitfolgen für Vereinsarbeit, Kulturbetriebe und unsere Bildungslandschaft mal ganz abgesehen.
Angesichts dieser sehr weitreichenden Folgen kann man der Mehrheitsgesellschaft keine Ungeduld vorwerfen, wenn sie mit Adresse an die ungeimpften Bürger sagt: Wir tolerieren eure Entscheidung – aber ihr müsst angesichts der weitreichenden Folgen eurer Entscheidung die Konsequenzen tragen. Das ist dann auch keine Stigmatisierung, wie der Ethiker Dabrock meint, sondern „Selbstschutz angesichts erkennbar unvernünftigen Verhaltens“.
Erkennbar unvernünftiges Verhalten
Wenn ungeimpfte Mitmenschen von bestimmten Lebensbereichen ausgeschlossen werden oder aber nur unter erschwerten Bedingungen teilnehmen können, dann ist das ohne Zweifel eine diskriminierende, aber gut begründete Folge.
Und angesichts der Gesamtumstände drängt sich für Peter Dabrock die Frage auf, wer sich unsolidarisch verhält: Diejenigen, die auf ihre individuelle Freiheit bestehen und sich nicht der Mehrheit anschließen wollen, oder aber diejenigen, die auf die Folgen dieses Verhaltens hinweisen.
Nur zur Erinnerung sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Impfung derzeit auf dem ganzen Erdball als die wirksamste Methode gilt, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen.
Etikett des zivilen Ungehorsams
Um den Ausgangsgedanken des zaudernden Politikers, der in der Pandemiebekämpfung nicht weiß, welche Entscheidung er treffen soll, wieder aufzunehmen: Klare Ansprache hilft zunächst einmal in jedem Fall. Sowohl Minderheiten als auch Mehrheiten haben in einer Demokratie das Wissen verdient, woran sie sind.
Je länger Politik zuwartet, desto mehr spielt sie denjenigen Kräften in die Hand, die als Minderheit die Mehrheit dominieren wollen – so aber funktionieren demokratische Gesellschaften nicht. In ihnen sind für die Gestaltung der Zukunft immer Mehrheiten zu organisieren. Diese können dann Regeln aufstellen, die wiederum für alle Gültigkeit haben.

Unter diesem Licht sind auch die aktuellen sogenannten Spaziergänge zu sehen. Sie sind überwiegend mehr (un-)organisierte Provokation als wirklich reflektierter Protest auf Basis sachlicher Argumente. Wer das hier und dort untersagte Versammlungsverbot umgeht und stattdessen zu Spaziergängen aufruft, mag sich besonders clever vorkommen und sich das Etikett des zivilen Ungehorsams geben wollen.
Auch die Lautstärke ändert nichts daran
Er verkennt aber, dass er eben doch zu einer Minderheit gehört – da ändert auch die Lautstärke nichts. Und wer, wie zuletzt in Schweinfurt geschehen, sein vierjähriges Kind in die Polizeiabsperrung schiebt, ist radikalisiert und ein Fall fürs Jugendamt – aber sicher niemand mehr, dem man zuhören muss.
Alle Menschen, da sind wir uns einig, sind genervt von den Folgen der Pandemie. Die Mehrheit steht dabei aber Seite an Seite und befolgt Regeln, die das Ende der Pandemie näherbringen sollen: mit Masken, mit Abstand und Anstand. Im besten Fall sogar mit einer Impfung. Da spaltet sich gar nichts.