Wie es dem Waldshuter Hans Studinger in NS-Zeit und Zweiter Weltkrieg ergangen ist, hat Wellen geschlagen – sogar über den Großen Teich. „Ich war fasziniert von Ihrem jüngsten Artikel über den 97-jährigen Zeitzeugen Hans Studinger.“ ­­­So beginnt eine E-Mail, welche die Waldshuter SÜDKURIER-Redaktion jüngst erreichte. Sie stammt von Kyle Nappi, einem 35-jährigen Forscher und Autor der Militärgeschichte aus den USA. Ursprünglich aus einer Kleinstadt im ländlichen Ohio stammend, lebt er aktuell nahe Washington.

Er schreibt: „Die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs faszinieren mich seit meiner Jugend. Ich erinnere mich, dass 2001 die Gedenkfeiern zum 60. Jahrestag des Angriffs auf Pearl Harbor mein Interesse an Militärgeschichte weckten.“ Da war er elf. Bald habe er mehr über den Zweiten Weltkrieg erfahren wollen. Aber dazu geht er nicht in Archive und Bibliotheken. Nappi verfolgt den Ansatz der Oral History, einer Methode der Geschichtswissenschaft, bei der Zeitzeugen zu Ereignissen und ihren Erfahrungen damit befragt werden und so die Geschichte für zukünftige Generationen lebendig bleibt.

Hans Studinger mit seiner Mutter, die während des Krieges als Bahnschrankenwärterin arbeiten musste.
Hans Studinger mit seiner Mutter, die während des Krieges als Bahnschrankenwärterin arbeiten musste. | Bild: Hans Studinger

Anfangs führte er seine Interviews mit Kriegsveteranen in seiner Heimatstadt persönlich. Doch schnell zog das Projekt größere Kreise, sodass er mit Kriegsveteranen aus den gesamten USA korrespondierte. Und bald wurde es auch international. Denn Nappi interessierte sich auch für die Erfahrungen und Perspektiven von Männern, die mit dem Kriegseintritt der USA 1941 auf deren Seite kämpften, also von Soldaten etwa aus Großbritannien, Kanada und der Sowjetunion, sofern letztere, um die Sprachbarriere zu überwinden, in den USA oder Kanada lebten und somit englischsprachig waren.

Seit 2006 interviewt Nappi auch Deutsche

Und bald darauf, ab Ende 2006, bezog er schließlich die Veteranen der anderen Seite mit ein, die der damaligen Feinde der USA – Japan und Deutschland. Aber eben: Hier kam die Sprachbarriere vollends zum Tragen. Doch dank der Fortschritte bei Übersetzungsprogrammen und -Apps konnte auch dieses Problem beseitigt werden. So kann er seinen Interviewpartnern einen maßgeschneiderten Fragebogen senden, der die Grundlage für Korrespondenz und Dialog bildet.

Kyle Nappi
Kyle Nappi | Bild: Kyle Nappi

Aus der Gegenüberstellung der Sichtweisen der früheren Feinde ergeben sich interessante Konstellationen. „Letzten Monat beispielsweise erhielt ich am selben Tag zwei Briefe: einen aus Deutschland von einem ehemaligen ‚Volkssturm‘-Rekruten und einen aus Brooklyn, New York, von einem ehemaligen Veteranen der sowjetischen Roten Armee. Beide Veteranen kämpften vor 80 Jahren in der Schlacht um Berlin im April 1945“, erzählt er.

Die Antworten kommen manchmal per Handschrift

So mancher Veteran, wie auch Hans Studinger aus Waldshut, besitzt keinen Computer und so auch keine E-Mail-Adresse. Doch auch handschriftlich formulierte Antworten auf die Fragen kann Nappi verwenden. Dafür, sie in digitalen Text umzuwandeln, gebe es ebenso Apps.

„In den letzten zehn Jahren habe ich mehr als 5000 Veteranen des Zweiten Weltkriegs interviewt, fast ausschließlich schriftlich und elektronisch“, fasst Nappi zusammen. Aber auch klar: Je länger das Kriegsende 1945 zurückliegt, umso kleiner wird die Zahl derer, die seine Fragebögen überhaupt noch ausfüllen können. Studinger, Jahrgang 1927, etwa wird im September 98 Jahre alt. 1933, als Hitler an die Macht kam, war er fünf. Eingezogen zur deutschen Armee wurde er Anfang 1945, mit gerade einmal 17 Jahren, und musste – Gott sei Dank – schon nicht mehr kämpfen. Ältere Veteranen, die noch an der Front standen, müssten heute 100 Jahre und älter sein. Sofern sie noch leben, müssten sie auch geistig in der Lage sein, sich zu erinnern. Und es zudem auch wollen.

In Gefangenschaft: Hans Studinger im französischen Lager „Calonne Liévin“, nach vierjähriger Gefangenschaft konnte er Ende 1948 nach ...
In Gefangenschaft: Hans Studinger im französischen Lager „Calonne Liévin“, nach vierjähriger Gefangenschaft konnte er Ende 1948 nach Waldshut zurückkehren. | Bild: Hans Studinger

Generell ist Nappi über die Offenheit der meisten seiner deutschen Interviewpartner erfreut, ihre Kriegserlebnisse mit einem jungen Amerikaner mit deutschen Wurzeln zu teilen. Er weiß: Die Zeit arbeitet nicht für, sondern gegen ihn. Er sagt: „Bald werden nur noch wenige Veteranen des Zweiten Weltkriegs unter uns sein. Umso mehr sehe ich es als meine Mission an, ihre schnell verblassenden Zeugnisse und so die menschliche Situation in Krieg und Konflikt zu dokumentieren“, begründet er sein Vorhaben.

Und das soll darin bestehen, ein Buch oder gar mehrere Bücher zu veröffentlichen, in dem in jedem Kapitel die Erfahrungen der einst verfeindeten Kämpfer, die er interviewt habe, gegenüberstellt sind, etwa die Schlacht um Berlin jeweils aus deutscher und aus sowjetischer Sicht. Er sagt: „Meines Wissens existiert ein solches Kompendium der Perspektiven bisher nicht.“

Hans Studinger hatte das Glück, nicht in Berlin kämpfen zu müssen. Aber dass Nappi seine Erinnerungen an NS-Diktatur und Krieg auch ins Buch einbeziehen möchte, freut den 97-Jährigen. Auch wenn ihm die Beantwortung der insgesamt 38 Fragen einiges an Arbeit abverlangen dürfte, war für ihn klar: Da mache ich mit, das ist ein gutes und wichtiges Projekt.

Die Geschichte von Hans Studinger und seine Jugend in der Nazi-Zeit können Sie hier nachlesen.