Herr Kiesewetter, die USA erlauben offenbar den Einsatz von Atacms. Wird das die Situation der Ukraine entscheidend verbessern?
Die Entscheidung der USA, der Ukraine endlich den Einsatz von Atacms auf militärische Ziele in Russland zu erlauben ist überfällig. Nunmehr werden wohl auch Frankreich und UK die Beschränkungen für die Marschflugkörper aufgeben. Das ist eine überfällige Entscheidung, die die Operationsmöglichkeiten der Ukraine erweitert und die Verteidigung definitiv effektiver machen wird. Denn so kann die Ukraine insbesondere Abschussrampen und Logistikpunkte der Russen proaktiv ausschalten, ehe von dort todbringende Bomben und Raketen gestartet werden.
Problematisch bleibt die relativ begrenzte Anzahl weitreichender Waffen und Munition. Deshalb bleibt wichtig, dass die Unterstützer der Ukraine weitreichende Waffen nachliefern, wie zum Beispiel JASSM und Marschflugkörper, und der Kanzler sich bewegt. Es ist für die Ukraine eine Verbesserung, der Erfolg hängt jedoch auch immer von Anzahl der verfügbaren Mittel und dem Zusammenspiel der Kräfte ab.
Die Ukraine verteidigt sich nun seit 1000 Tagen gegen die russische Invasion. Präsident Wolodymyr Selenskyj fragt: Wie halten es die Deutschen mit der Hilfe für uns? Ist diese ausreichend?
Das ist eine sensible Frage, weil sie an das deutsche Grundverständnis knüpft, nämlich dass wir nach den USA die zweitstärksten Unterstützer der Ukraine seien und jetzt gefälligst die anderen mehr tun sollten. Wenn wir aber genau hinsehen, wendet Deutschland nur 0,1 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Militärhilfe der Ukraine auf. Das sind nur etwa 20 Prozent der Hilfen, die wir insgesamt leisten. 70 Prozent davon gehen an geflüchtete Ukrainer bei uns, etwa in Form von Bürgergeld oder Unterbringungskosten. Hilfsgelder für zivilen Wiederaufbau belaufen sich auf 10 Prozent.
Deutschland ist also vor allem Sozialdienstleister?
Genau. Und wir stehen damit im Vergleich nur mäßig da. Dänemark ist Spitzenreiter in Europa. Dort gibt man 1,6 Prozent vom BIP für die militärische Unterstützung der Ukraine aus. Selbst England leistet vom BIP gesehen her dreimal mehr als wir. Unsere Nachbarländer sind entsprechend enttäuscht. Zudem hat die deutsche Regierung noch angekündigt, die Hilfe im nächsten Jahr zu halbieren.
Das passt kaum zur von anderen Staaten angemahnten deutschen Führungsrolle. Wer führt stattdessen?
Polen ist eingesprungen und versucht, eine Koalition der Willigen zu schmieden. Regierungschef Donald Tusk will das organisieren, was Kiew dringend braucht: Weitreichende Waffensysteme und Munition. Deutschland spielt da kaum eine Rolle, weil es viel Vertrauen verloren hat.
Aber man spricht ständig von der Lieferung von Flugabwehrsystemen ...
Flugabwehr ist richtig. Aber mit diesen Systemen kann die Ukraine keine Gegenangriffe auf Ziele im russischen Luftraum starten. Sie werden nur zum Schutz ziviler Infrastruktur und militärischer Liegenschaften eingesetzt.
Würde die Union unter einem Kanzler Friedrich Merz militärisch mehr für die Ukraine tun?
Das käme auf die Konstellation einer Regierungskoalition an. Würden wir mit der SPD regieren, hängt das von der Frage ab, wer sich in der SPD durchsetzt. Die CDU unterstützt jedenfalls Selenskyjs Friedensplan, der auf kein großes Echo gestoßen ist. Er bedeutet: Wenn man Frieden will, muss man erst den Sieg ermöglichen und Stärke gewinnen.

Das heißt, der Lenkflugkörper Taurus würde geliefert?
Friedrich Merz hat klar gemacht, dass er grünes Licht für die Ausbildung ukrainischer Soldaten am Taurus geben und die Waffe dann auch liefern würde. Beim Taurus kann man die Reichweiten einstellen, man kann auch einen Vertrag schließen mit der Ukraine, die hat sich auch beim Scalp- und Stormshadow-Flugkörper an alle Verträge gehalten.
Die Union will aber auch die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine, sobald die Bedingungen gegeben sind, und sie möchte, dass die Ukraine befähigt wird, militärische Ziele in Russland zu bekämpfen. Nur müsste sich dafür die Meinung in der SPD ändern, wenn es zu einer Koalition käme.
In der Bevölkerung bestehen da allerdings Ängste.
Genau. Daher muss der Öffentlichkeit entschiedener klargemacht werden, warum wir liefern. Wir müssen sagen: Wir unterstützen die Ukraine nicht aus reiner Solidarität, sondern aus unserem ureigensten Sicherheitsinteresse.
Die Botschaft muss sein, dass wir in Frieden, Freiheit, Selbstbestimmung leben, dass die Westbindung bleibt, dass die Nato stark bleibt und dass das neuartige militärische Wissen, das die Ukraine in diesem Krieg – etwa bei der Drohnentechnik – erwirbt, nicht in falsche Hände gerät. Es kann helfen, auch unsere eigene Sicherheit zu verbessern.
Die Ukraine darf den Krieg nicht verlieren, Russland darf ihn nicht gewinnen. Das ist doch keine Strategie, oder?
Ich sage seit fast drei Jahren, dass der Kanzler ein falsches Ziel und eine falsche Strategie hat. Stattdessen: Russland muss verlieren lernen und die Ukraine ihre Grenzen wiederherstellen. Russland muss das Existenzrecht all seiner Nachbarstaaten unwiderruflich anerkennen, so wie Deutschland das Existenzrecht seiner Nachbarstaaten unwiderruflich anerkennt. Warum kann Russland nicht zu einem eurasischen Kanada werden?
Wenn wir das als strategisches Ziel ausgeben, dann kann es nicht sein, dass die Ukraine in einen Diktatfrieden, in einen Waffenstillstand gezwungen wird und man ihr auch noch, wie der Kanzler es möchte, eine Zukunftsperspektive für die Nato verbaut.
Ist denn die Nato schon jetzt durch Russland bedroht?
Ja, und das ist ein entscheidender Punkt. Es ist kein Krieg Russlands gegen die Ukraine, sondern ein Krieg, den Russland in einer Koalition mit China, Iran und Nordkorea führt. Er findet militärisch auf ukrainischem Boden statt, aber hier bei uns hybrid. Durch Cyberangriffe auf Parteien und kritische Infrastruktur, gezielte Tötungen ukrainischer Soldaten, die zur Genesung in Deutschland sind, Zerstörung von Bahnknotenpunkten.
Durch Sabotage also?
Ja. Es gibt Überflüge mit Drohnen, die drei, viermal schneller fliegen als unsere Polizeidrohnen. Russland testet uns aus. Und der Kanzler sagt, er will jede weitere Eskalation vermeiden. Aber er belügt, ich sage das jetzt ganz offen so, die Bevölkerung dahingehend, als Russland immer weiter eskaliert. Unsere Schwäche ist für Russland eine Einladung immer weiter zu eskalieren. Wir haben die Wahl zu entscheiden, wie unsere Zukunft aussieht.
Fährt die künftige US-Regierung unter Donald Trump ihre Ukraine-Hilfe auf Null runter?
Ich habe vor wenigen Monaten mit zwei Beratern von Trump gesprochen. Die sagen: Sollen wir unsere Sicherheit aufs Spiel setzen für Ost-Estland? Da habe ich gegengehalten: Jedes Nato-Mitglied, egal wie groß, wie klein, muss dieselbe Sicherheit haben, sonst geht Putin ran. Das haben sie gekauft. Aber die Republikaner haben schlagende Argumente. Sie sagen: Das ist ein Krieg auf europäischem Boden.
Wenn es da wirklich ums Ganze geht, dann würdet ihr doch das Geld für die Kriegskosten zuerst organisieren! Wieso wartet ihr auf uns? Wenn Olaf Scholz dann in Washington, wie geschehen, sagt, man schaffe es nicht ohne die USA, dann nehmen die Republikaner nicht ernst, dass Russland eine Bedrohung für ganz Europa ist.
Was heißt das für die Europäer?
Ein künftiger Kanzler muss in Zusammenarbeit mit Frankreich, mit Polen und Großbritannien klarmachen: die Unterstützung der Ukraine hat einen Mehrwert für Europa. Sollte es zu einem Abzug der Russen aus dem Donbass kommen, könnte die Ukraine wirtschaftliche Kraft schöpfen, aufgrund der Rohstoffvorkommen dort. Und man profitiert von dem militärischen Wissen der Ukrainer. Gewinnt die Ukraine diesen Krieg, kann sie der Nato durch militärische Stärke einen Mehrwert bieten.

Seit fast 1000 Tagen führt Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Ein Ende ist nicht in Sicht:
Es wird wieder darüber diskutiert, ob die Bundeswehr einen weiteren Sondertopf braucht oder ob nicht grundsätzlich mehr Geld in den Verteidigungsetat fließen muss. Aber dass die Truppe mehr Milliarden braucht, ist unbestritten, oder?
Ja, so sollte man es sehen. Leider wurde die Zeitenwende-Rede von Olaf Scholz, die er im Februar 2022 gehalten hat, in Deutschland auf das Militär reduziert und Gesamtverteidigung und eine strategische Kultur nicht mitgedacht. Der Truppe hat man sogar Mittel gekürzt. Im Grunde hat sich die fehlende Sicherheitskultur fortgesetzt. Verteidigungsminister Boris Pistorius hat im letzten, in diesem und fürs nächste Jahr zusammen über 15 Milliarden Euro mehr gefordert, als er bekommen hat.
Mit der geforderten Kriegstüchtigkeit wird es also nichts?
So nicht. Mit dieser SPD kann er das nicht hinbekommen. Die von der Nato geforderte Ausgabe von zwei Prozent vom BIP werden ja nur durch Haushaltstricks erreicht, 2025 vielleicht wieder unterboten. Dann haben wir einen Fähigkeitsabbau bei der Bundeswehr. Zwei Prozent bedeuten in der Regel Fähigkeitserhalt. Wenn wir eine Zeitenwende und Fähigkeitsaufbau wollen, dann brauchen wir etwa drei Prozent – wie im Kalten Krieg übrigens. Das Sondervermögen wird spätestens 2026 aufgebraucht sein. Damit muss etwas Neues geschehen.
Was?
Es ist die oberste Priorität eines Staates, die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten. Das heißt, dass sich die künftigen Koalitionsparteien zusammensetzen und überlegen müssen, wie und wo sie das Geld hernehmen – etwa durch eine neue Priorisierung im Haushalt. In dem liegen 500 Milliarden Euro. Da muss es doch möglich sein, mehr Geld freizumachen. Außerdem ist die Schuldenbremse kein Selbstzweck, sondern es geht darum, dass unser Land in seine Zukunft und Sicherheit investiert.