Es war ein Musterbeispiel der Klientelpolitik, mit dem sich die damalige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) in die lange Liste der parteigebundenen Wählergeschenke einschrieb. Wer 45 Arbeitsjahre auf dem Buckel hatte, sollte sich zwei Jahre vor dem regulären Renteneintritt abschlagsfrei in den Ruhestand verabschieden können.

Dabei dachte Nahles an Leute wie ihren Vater, der sich als Maurer bis 61 krummgeschafft hatte oder an die Dachdecker, denen man in diesem Alter das Balancieren in lichter Höhe ersparen wollte.

Experten haben früh gewarnt

Diesen Malochern den Genuss einer früheren Entspannung zu gönnen, schien ein Akt sozialpolitischer Verpflichtung, weshalb die „Rente mit 63“ 2014 in Kraft trat – trotz des Widerstands in der Union und trotz der Warnung von Experten, die auf die Gefahr eines Fehlanreizes hinwiesen. Zwar steigt die Altersgrenze für den vorgezogenen Ruhestand schrittweise an, doch inzwischen entpuppt sich das Nahles-Erbe als fiskalpolitische Zeitbombe.

Grund: Das Projekt hat sich zu einer regelrechten Massenflucht in den Vorruhestand ausgewachsen, der die bereits überstrapazierte Rentenkasse weiter belastet. Was vor elf Jahren kaum bedacht wurde: Dass auch die damals noch voll im Berufsleben stehende Alterskohorte der Babyboomer irgendwann vom lukrativen früheren Ausstieg aus dem Arbeitsleben mit Kusshand Gebrauch macht. Jeder Zweite von ihnen hört bisher vorzeitig im Job auf. 2024 nutzten 270.000 Deutsche die Tür in den versüßten Vorruhestand.

Nur eine Minderheit ist belastet

Das wäre weniger bedenklich, handelte es sich bei der Mehrzahl um jene ausgezehrten Schaffer, deren Knochen und Sehnen nicht mehr mitmachen wollen. Nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) ist das aber nicht der Fall. Weniger als ein Drittel der Frührentner können als physisch belastet gelten.

Was als Brücke für Leute aus dem Baugewerbe, aus der Gastronomie oder der Pflegebranche gedacht war, wird in der Mehrheit von jenen in Anspruch genommen, die gut ausgebildet sind, überdurchschnittlich verdient haben und körperlich gesund sind. Hier gilt für die abschlagsfreie Rente der bekannte Mitnahme-Effekt. Was auf dem Silbertablett serviert wird, das nutzt man auch.

Angriff an den Generationenvertrag

Daher ist oft zu hören, nach 45 Jahren Einzahlung in die Rentenkasse stünde den Empfängern die Vergünstigung zu. Aus einem moralischen Blickwinkel mag das gerechtfertigt sein, dennoch zieht das Argument nicht. Die Rentenversicherung ist keine Kapitallebensversicherung, die sich aus individuellen Beiträgen speist, sondern sie folgt einem Generationenvertrag, bei den die Jüngeren für die Älteren einzahlen. Ob jene ihrerseits in Zukunft gewiss sein können, dass das System tragfähig bleibt, ist keineswegs sicher.

Immer mehr Stimmen – darunter auch Baden-Württembergs Regierungschef Winfried Kretschmann – fordern daher auch aus diesem Grund ein Aus der „Rente mit 63“ und verweisen auf das Erfordernis der Generationengerechtigkeit. Denn das Geschenk muss von den Jüngeren bezahlt werden, die zudem noch steigende Renten- und Krankenkassenbeiträge schultern müssen.

Die Menschen sind definitiv gesünder als früher

Auch aus einem anderen Grund ist die Nahles-Rente aus der Zeit gefallen: Die Menschen sind im Alter heute definitiv gesünder als früher, und sie leben immer länger. Daraus ist abzuleiten, dass sie sich mit dem Renteneintritt gedulden können und müssen. Für die vorgezogene Ruhestandswohltat gibt es angesichts der demografischen Kurve keinen Platz mehr.

Was sich nun auch rächt: dass Fachkräfte mit ihrem enormen Erfahrungsschatz dem Arbeitsmarkt vorzeitig entzogen werden. Während der Nachwuchs ausbleibt, leistet sich unsere Gesellschaft den Luxus, auf das Können und Wissen langjährig Berufstätiger zu verzichten und das auch noch teuer zu alimentieren. Das muss enden. Viele gut bezahlte Leistungsträger können sich den vorgezogenen Ruhestand auch aus eigener Tasche finanzieren.

Für viele ist die „Rente mit 63“ keine Option

Unbestritten ist, dass es jenen Anteil der früher Verrenteten gibt, für die es tatsächlich körperlich und physisch nicht mehr möglich ist, die volle Meile zu gehen. Dieses Problem ist indes durch verbesserte Erwerbsminderungsrenten lösbar, so dass keiner auf dem Zahnfleisch zur Arbeit kommen muss.

Nebenbei bemerkt: Für viele Menschen aus den unteren Gehaltsgruppen ist die „Rente mit 63“ gerade deshalb keine gangbare Option, weil sie sowieso nicht viel zu erwarten haben. Sie müssen eher länger arbeiten, um über die Runden zu kommen.

Das Aus für die Nahles-Rente allein wird die Lage aber nicht bessern. Die Deutschen – mit wachsender Lebenserwartung beschenkt – müssen insgesamt länger arbeiten. Ob das über Zwang oder über Anreize oder durch eine Kombination von beiden geschieht, ist noch offen. Sicher ist: Entscheidungen müssen fallen. Je früher, desto besser.