Am Beginn jedes Krieges steht eine falsche Lagebeurteilung. Im Ukraine-Krieg gibt es Dutzende. Die verhängnisvollste unterlief dem Angreifer, Kremlchef Wladimir Putin. Seine Annahme, er könne nach fünf Tagen über Kiew die russische Flagge hissen, verleitete ihn zu einer Entscheidung, die Europa tiefgreifend verändert hat und die längst seine eigene Herrschaft gefährdet.
Die peinlichste leistete sich die Bundesregierung mit ihrer Hoffnung, sie komme mit der Lieferung von 5000 Helmen davon. Ein Jahr danach sind viele Illusionen geplatzt. Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht. Niemand kann sagen, wann und wie er endet. Niemand weiß, was er dem Westen noch alles abfordert. Fest steht nur: Setzt sich Putin durch, wird es in der Ukraine still und in Europa finster.

Das zwingt die Bundesregierung dazu, den Opfern dieses Überfalls zur Seite zu stehen – auch wenn die Gefechte immer blutiger, die Waffen immer schwerer und die Risiken immer unkalkulierbarer werden. Wie weit soll die Hilfe gehen? Was dient dem Frieden und was führt nur tiefer in den Krieg?
Niemand verkörpert das Dilemma der deutschen Ukraine-Politik besser als der Bundeskanzler. Von Anfang an stand Olaf Scholz die Sorge ins Gesicht geschrieben, der Konflikt könnte sich über die Grenzen der Ukraine hinaus ausweiten und zu einem Atomkrieg auswachsen.
Die Bedenken manövrierten ihn in die Rolle des Bremsers und Beschwichtigungspolitikers, der sich in seinen eigenen roten Linien verheddert. Inzwischen hat sich Scholz teilweise daraus befreit. War es der Druck? Oder eher eigene Einsicht? Die Frage bleibt offen, wie so vieles in der Ukraine-Politik dieses Kanzlers.
Viele Bundesbürger teilen die Sorge des Kanzlers
Trotzdem kann sich Scholz in seinem Wackelkurs bestärkt fühlen. Viele Bundesbürger teilen seine Sorge – weit über den friedensbewegten Flügel seiner Partei hinaus. Sie nehmen den Kanzler nicht als zaudernd wahr, sondern als vorsichtig. Deshalb gelingt es der Union auch nicht, den Regierungschef in dieser Frage vor sich herzutreiben. Und deshalb fallen Friedensappelle, Petitionen und offene Briefe immer wieder auf fruchtbaren Boden.
Die Angst, Deutschland könnte zur Kriegspartei werden und einen russischen Gegenschlag, möglicherweise sogar einen Atomkrieg provozieren, verunsichert viele, bis weit in konservativ-bürgerliche Kreise hinein. Um so zu denken, muss man kein Willy-Brandt-Nostalgiker und kein Pazifist sein, erst recht kein Anhänger von Sahra Wagenknecht oder der AfD.
Wenn der Westen die Ukraine im Stich gelassen hätte...
Aber: Auch die Gegner von Waffenlieferungen müssen sich den Realitäten stellen. Was wäre, wenn der Westen die Ukraine nach dem 24. Februar 2022 aus Angst vor einer Eskalation im Stich gelassen hätte? Was, wenn Putins Plan, das Nachbarland zu überrennen, aufgegangen wäre, weil niemand der Regierung in Kiew hilft, sich zu verteidigen?
Die russische Armee, so viel steht fest, läge in diesem Fall nicht in den Schützengräben des Donbass-Beckens, sondern stünde waffenstarrend an den Grenzen der Nato – oder hätte sie schon überschritten. Die große Konfrontation mit dem Westen, vor der die Skeptiker warnen: Sie wäre dann längst da.
So gesehen, verteidigen die Ukrainer nicht nur ihre eigene Zukunft, sondern auch die Sicherheit anderer Länder. Mit ihrer Hartnäckigkeit verhindern sie, dass sich Putin weitere Opfer sucht oder gar die Nato offen herausfordert.
Die meisten Friedensappelle verdrängen diese Tatsache. Für sie verlängert der westliche Beistand den Krieg, nicht Putin, obwohl er den Krieg jederzeit beenden könnte. Die Ukraine hat diese Option nicht: Gibt sie auf, verliert sie alles – Leben, Zukunft, ihre Existenz als eigenständiges Land in Europa.
Noch glaubt der Kremlchef daran, dass er dieses Ziel erreichen kann. Deshalb startet er eine neue Offensive, deshalb lässt er alle Sondierungen ins Leere laufen. Selbst US-Präsident Joe Biden stieß in Moskau mit einem vorsichtigen Vorstoß gegen Wände, weil der Kreml ihm bedeutete, Russland gewinne sowieso. Im Gegensatz zum Westen, so glaubt Putin, hat sein Land genügend Zeit, Material und Menschen, die er als Kanonenfutter verheizen kann.
Der Krieg kann noch lange dauern
Solange sich an dieser Einschätzung nichts ändert, kann der Krieg noch lange dauern. Putin setzt darauf, dass der Westen ermüdet und Europas Regierungen unter Druck geraten, je höher er die Kosten des Krieges schraubt. Auch seine Atomdrohungen folgen, leicht durchschaubar, dieser Strategie.
Friedensverhandlungen, so sagen die Historiker, gab es in der Vergangenheit immer erst dann, wenn die Hoffnung auf militärischen Erfolg schwindet. Nur eine starke Ukraine kann Putin zur Einsicht bringen, dass sein mörderischer Traum von einem großen Russland aussichtslos ist. Mit einer schwachen Ukraine hingegen gibt es nichts zu verhandeln. Sie wäre ihm ausgeliefert.