Sollte US-Präsident Donald Trump demnächst Amerikas Nato-Ausstieg verkünden, steht eine Reaktion bereits fest: Schock! Wir sind geschockt über Wahlhilfe für die AfD. Wir fallen vor Schreck vom Stuhl bei Selenskyis Demütigung im Oval Office. Und wir sind dem Herzinfarkt nahe angesichts verhängter Zölle von zig Prozent.
Wer in einer absehbaren Entwicklung ständig aufs Neue zu Tode erschrickt, der hat entweder schwache Nerven oder aber er ist noch immer nicht so recht aus seinem Dämmerschlaf erwacht.
Zwei Wirkstoffe benebeln uns
Ersteres hat man uns Deutschen selten nachgesagt, also liegen wir wohl betäubt im Bett und träumen von einer heilen Welt. Das Opium, das dabei offenbar noch immer in unseren Blutbahnen zirkuliert und alle Sinne benebelt, besteht aus zwei Wirkstoffen: Demokratie und Marktwirtschaft.
Beide Prinzipien, so lautet ja die gängige Erzählung des Westens, sind nicht nur in ihrem freiheitlichen Wesen miteinander verbunden wie ein Zwillingspaar. Sie sind vor allem eines: einfach unschlagbar.
So erfolgreich hat die Symbiose sich nach dem Untergang des Sozialismus als Garant für Sicherheit und Wohlstand bewährt, dass wir über alternative Gesellschaftsformen gar nicht mehr nachzudenken brauchen.
Nach Jahrtausenden der Irrwege über Diktaturen, Monarchien und kommunistische Experimente hat der Mensch in der liberalen Demokratie den Stein der Weisen gefunden, Halleluja!
Das scheinbare Ende der Geschichte
Vom „Ende der Geschichte“ war sogar schon die Rede, und der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, der diese These in die Welt gesetzt hat, mag sich bis heute nicht davon abbringen lassen.
Islamistische Anschläge? Russlands Überfall auf die Ukraine? Nur ein kurzes Auflodern vergangener Zeiten! Auf lange Sicht sei der endgültige Triumph unseres Systems unausweichlich.
Die Vorstellung vom westlichen Gesellschaftsmodell als ultimative Lösung aller Probleme hat unser kollektives Bewusstsein durchdrungen, wenn auch mit leichten Abwandlungen. Bei den Bevölkerungsforschern Reiner Klingholz und Wolfgang Lutz zum Beispiel gesellten sich zu den Segnungen von Demokratie und Marktwirtschaft – als Voraussetzungen – noch Bildung und eine niedrige Geburtenrate.
Das Grundprinzip aber war immer gleich: Wer den Weg zu einem freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaat erst einmal gefunden hat, der wird ihn nicht mehr verlassen. Und sobald es nur eines Tages alle verstehen, winkt ewiger Frieden auf Erden.
Dabei ist der Webfehler in diesem Denkmuster kaum zu übersehen. Denn statt einander zu ergänzen verfolgen Demokratie und Kapitalismus in Wahrheit ja grundverschiedene Ziele: Das eine sucht den Ausgleich, das andere den Wettbewerb.
„Das Verhältnis zwischen Kapitalismus und Demokratie kann nur angespannt sein“, bringt der St. Galler Philosoph Dieter Thomä das Problem auf den Punkt. Und sein Friedrichshafener Kollege Armen Avanessian stellt klar, dass diese Spannung auch ganz natürlich sei: Der Mensch ist ein Konfliktwesen, „nicht nur nach außen, sondern ebenso nach innen“.
Wenn wir schon unsere individuellen seelischen Konflikte kaum in den Griff bekommen – wie sollte ein politisches System dann ganze Gesellschaften ruhig stellen?
Das Beispiel China zeigt seit Jahren, dass sich unternehmerische Freiheit auch ganz ohne politische Freiheit denken lässt. Und wie leicht trotz Wirtschaftswachstums eine Demokratie kippen kann, war zuletzt in Ungarn oder auch der Türkei zu besichtigen. Ja, aber doch nicht bei uns! Wir im Westen haben doch verstanden!
Bis in die allerletzte Sekunde herrscht der Glaube vor, der ganze krawallige Populismus werde sich schon noch als politisches Theaterspiel entpuppen. Ein bisschen Zündeln mit Sprengstoff aus dem historischen Gruselkabinett: damit alle mal kurz aufschrecken und in unserer Demokratie die eine oder andere Stellschraube nachjustieren.
Sollte wirklich jemand gleich das ganze System in die Luft sprengen wollen, werden einflussreiche Kräfte diesem Treiben Einhalt gebieten. Haben die Gerichte schon kapituliert, bleibt ja noch die Wirtschaft. Die ist ja auf ihren Bruder, die Demokratie angewiesen. Angeblich.
Wie Kain und Abel
Der tiefe Glaube in die ewige Überlegenheit eines Zwillingspaars, das sich bei näherer Betrachtung als Kain und Abel entpuppt, ist der Grund dafür, dass auf eine zweite Amtszeit Donald Trumps niemand vorbereitet war. Dass auch nach Amtseinführung kaum jemand seinen Ankündigungen glauben mochte.
Und das selbst jetzt noch vielfach zu hören ist, ganz so schlimm werde, ja könne es gar nicht kommen. Schließlich käme sonst mit der Demokratie auch der Markt zu Schaden.
Dabei gibt es längst schon nur noch einen einzigen plausiblen Grund, sich zu erschrecken: nicht über die erwartbar schlechten Nachrichten der kommenden Wochen. Sondern über die erschrockenen Reaktionen von Menschen, die es besser wissen sollten.