Walentina Afanasjewa schließt die Augen. Für einen kurzen Augenblick ruft sie sich plötzlich die Vergangenheit in Erinnerung. „Der Geschmack des Herings, der war ganz unglaublich.“ Sie macht die Augen wieder auf, ein kalter Schauer laufe ihr über den Rücken, sagt sie. Es ist eine Vergangenheit, die Walentina Afanasjewa längst überwunden zu haben schien.

Immer mehr Firmen ziehen sich zurück

Sieben Stunden habe sie für den Fisch angestanden, als Heranwachsende in den 1990er-Jahren. Der Hering, kurz vor Neujahr, ein traditionelles Gericht der russischen Feiertagsküche. „Sieben Stunden! Nach so was schmeckt wahrscheinlich selbst der trockenste Hering wie der leckerste Kaviar.“ Sie versucht, zu lachen, schaut aber schnell zu Boden. Sie ist jetzt Mitte 40 und steht wieder in einer Schlange, den Korb in ihrer Hand voller Kleider, die Kasse weit weg. Alle paar Minuten macht sie einen Schritt nach vorn.

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ziehen sich immer mehr westliche Firmen aus Russland zurück. Manche haben ihre Arbeit vorerst für einige Monate unterbrochen und zahlen ihren Mitarbeitern einen geringen Ersatzlohn, andere bieten ihren Angestellten im Ausland eine Stelle an.

Ikea, McDonald‘s, H&M und Starbucks sind geschlossen

Autobauer wie BMW oder VW liefern nicht mehr nach Russland und wollen auch nicht mehr im Land produzieren. Nestlé liefert nur noch Grundnahrungsmittel, Coca-Cola stellt den Betrieb ein. Ikea, McDonald‘s, H&M, Starbucks, Adidas: Ihre Läden, die sonst die Shoppingmalls quer durch Russland füllten, sind nun geschlossen.

Auch die US-Fastfood-Kette McDonald‘s zieht sich aus Russland zurück. Bild: dpa
Auch die US-Fastfood-Kette McDonald‘s zieht sich aus Russland zurück. Bild: dpa | Bild: Alexander Sayganov

Manche Moskauer machen sich auf Erkundungstour durch die Stadt: In welchem Einkaufszentrum ist noch welcher Laden geöffnet? Auch Walentina Afanasjewa – die nur in dieser Geschichte so heißt, wie jeder andere hier nicht seinen wahren Namen trägt, weil er sich nicht exponieren will – ist seit Tagen unterwegs. Im Zentrum sei der Laden, in den sie wollte, bereits geschlossen, nun nehme sie eben die Schlange im Westen der Stadt auf sich. Der Sohn habe am Tag zuvor fünf Stunden angestanden.

Eindrücke aus der Moskauer Shoppingmall „Okeania“

Durch die Shoppingmall „Okeania“, nicht weit vom Moskauer Siegespark entfernt, eilen die Menschen mit vollen Tüten aus Schuhgeschäften, sie stehen am Nespresso-Stand an und auch im Uniqlo, wie die Bankangestellte Afanasjewa. Die japanische Freizeitbekleidungskette verkauft seit 2011 in Russland. Am 20. März machen die letzten Uniqlo-Geschäfte hier zu.

„Ich mag diese Marke, es ist für mich auch ein Zeichen, dass wir ein ganz normales Leben führen können. Wie die Europäer, wie die Amerikaner, wie die Asiaten“, sagt Afanasjewa. „Aber dieses normale Leben ist einfach hin. Mit einem Schlag. Ausgeführt von unserem Präsidenten.“ Sie flüstert fast. Öffentliche Kritik am Kreml ist gefährlich im Land. Doch in der Warteschlange werden aus Fremden spätestens nach 20 Minuten Schicksalsgenossen. Sie unterhalten sich über ihre Sorgen, erzählen von den Kindern, ihren Zukunftsängsten.

„Nennen Sie die Dinge doch beim Namen: Russland führt Krieg gegen die Ukraine. Deshalb stehen wir doch alle hier“, sagt Alexander Iwanow hinter Walentina Afanasjewa. Offiziell müsste er „militärische Spezialoperation“ sagen. „Warum bestraft uns der Westen dafür?“, fragt seine Frau Irina. Sie haben Hosen in ihren Körben, T-Shirts für die Söhne, Unterwäsche.

Große Herausforderung auch für die Jungen im Land

Walentina Afanasjewa sagt: „Die Jungen von heute können mit den Schwierigkeiten, die auf uns alle bald zukommen, doch gar nicht umgehen. Für sie ist der Rückzug alles Westlichen ein Drama, sie sind damit aufgewachsen, dass ihnen alles offen steht, dass sie reisen können, sich weiterentwickeln. Jetzt kann mein Sohn sein Praktikum in einem internationalen Konzern nicht machen. Ob er in den Kampf eingezogen wird? Gott bewahre!“

Seit russische Panzer die Grenze zur Ukraine überquert haben, hat der Rubel fast die Hälfte seines Wertes gegenüber dem Dollar eingebüßt. Die Inflation steigt rasant, Ökonomen rechnen bis spätestens April mit der Zahlungsunfähigkeit Russlands. Manche Läden wechseln gar nicht mehr die Preisschilder aus. „Die Preise an der Kasse können andere sein als am Regal“, steht da schlicht.

„Wo ist denn der Anfang der Schlange?“, fragt ein Mann im überfüllten Uniqlo-Geschäft, vollbepackt mit Pullovern, Jacken, Hosen. Der Wachmann wundert sich über den Zulauf, seit Tagen gehe es schon so. „Anfang? Suchen Sie nach dem Ende, mein Lieber. Es ist alles zu Ende hier“, sagt Alexander Iwanow.

Menschen geben die Hoffnung nicht auf

Resigniert ist er nicht. „Warum denn auch? Wir haben die 90er überstanden, wir haben 2014 gepackt, die neue Krise ist schlimmer, aber auch die schaffen wir. Müssen wir ja“, sagt er. Die beiden Frauen nicken. „Wir haben keine Wahl, haben mit dieser seltsamen ,Spezialoperation‘ nichts zu tun, Putin hat uns vor vollendete Tatsachen gestellt, und jetzt wendet sich jeder von uns ab, das tut weh“, sagt Afanasjewa.

Nach mehr als einer Stunde kommt sie an der Kasse an. Legt die schwarzen Socken dahin, die grauen Unterhemden. „Viel Glück!“, ruft ihr Alexander Iwanow zu, der bereits bezahlt hat. Sie schaut versunken.